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Wladimir Iljitsch Lenin, ein russischer Volksheld Foto: ZDF

© Sebastian Lempe

Doku: Dichter und Lenker

„Von der Welt kannte er nur das Licht, das auf die Bücher fällt.“ Ein Arte-Film über Lenin, den Paten der Russischen Revolution.

Moskau, Kreml, vorm Auferstehungstor. Menschen von heute werfen Glückspfennige über die Schulter. Die Kamera beobachtet sie. Auch die zwei miteinander redenden Schauspieler am Rand der Szene. Sie haben im Augenblick nichts zu tun, kein Tourist will sie fotografieren. Lenin und Stalin haben Pause.

Von hier, vom Kreml, sei einst eines der größten Glücksversprechen der Geschichte ausgegangen, hören wir, und: Die Menschen seien im Spiel offenbar klüger als im Leben, denn wer die Münze über den Rücken wirft, zielt gar nicht erst. So fängt das an. Die Bühne eines größtmöglichen Dramas ist abgesteckt.

Was für ein unmögliches Intro! Was für ein wunderbares Intro, alle Üblichkeiten des neueren Dokumentarfilms à la Knopp leichthin über- und unterspielend, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe! Kein Zeitzeuge, nirgends. Keine nachgespielte Szene. Und das neunzig Minuten lang. Verpassen Sie keine einzige! Denn nichts ist hier zufällig, nichts Verlegenheit. Jeden Augenblick verbinden sich Sprache und Bild neu miteinander.

Es ist nicht der erste Film des Duos Ullrich Kasten und Hans-Dieter Schütt. Sie haben das Theater der DDR ebenso porträtiert wie 2009 die „Feindschaft“ zwischen Hitler und Stalin. Wenn bei diesen Autoren von Feindschaft die Rede ist, war klar, was wir auch zu erwarten hatten: zugleich das Porträt einer geheimen Verwandtschaft. Die Verwirklichung der Idee mag furchtbar gewesen sein, aber sie selbst, war sie nicht rein? Der Herzschlag des Anfangs, gewissermaßen? Wer die Autoren kennt, ahnt die Antwort.

Und doch, wie viel Versehen, wie viel absichtslose Absicht braucht es, um so ein Epochenherz zum Schlagen zu bringen. Ohne Wilhelm II. keine Sowjetunion. Der deutsche Kaiser hielt es für eine gute Idee, den bald 50-jährigen frustrierten russischen Zürcher Emigranten Lenin, einst halbherziger Strafverteidiger von Bauern und Dieben, jetzt Kopf einer kleinen radikalen Abspaltung der russischen Sozialdemokratie, im verplombten Zug durch sein Reich fahren zu lassen. April 1917. Es ist ein trojanisches Pferd auf Schienen; denn in Petersburg angekommen, das wusste der Kaiser, würden die Insassen den Zaren empfindlich beim Kriegführen stören. Dumm nur: Dieses Troja würde erst als besiegtes richtig beginnen. Und bald würde es überall sein.

„Von der Welt kannte er nur das Licht, das auf die Bücher fällt“, sagt Hans-Dieter Schütt über Lenin. Lässt sich denn mehr in einem Satz über einen Menschen sagen? Auch über seine Volksfremdheit? Lenin, ein Mann der Bibliotheken, der nun zum Schwert greift. Der noch auf der Eisenbahn erst eine Zugordnung, und dann die künftige Weltordnung entwarf, von Russland aus gesehen: die berühmten „Aprilthesen“. Eine Schrift, so sagen die Autoren, die so sei wie der ganze Lenin, „intelligent, jäh, eisig, unverschämt, machtgierig“.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte sich sein älterer Bruder Alexander, verhinderter Zarenattentäter, nicht mit 21 Jahren aufhängen lassen? Um Gnade zu bitten, lehnte er ab. Der junge Lenin übernahm die Mission des Bruders, auch seine Unerbittlichkeit, zumal nachdem er „Das Kapital“ kannte. Das Hauptwerk von Marx durfte in Russland erscheinen. Wegen Unlesbarkeit.

Hans-Dieter Schütt, einst Chefredakteur der „Jungen Welt“, hat sein Leben nach 1990 der systematischen Selbst-Ent-Täuschung gewidmet, ist dabei aber – und das ist selten – der Gegentypus eines Konvertiten. Er will nicht heute das Gegenteil von dem beweisen, was er früher selbst geglaubt hatte; er will nur verstehen, wie dieser Mantel der Geschichte gemacht ist, der uns streifte. Ganz sicher nicht aus bloßen Fakten, wie das Infotainment glaubt, vielmehr aus in sich verschlungenen Fäden. Unter besonderer Berücksichtigung der Fehler des Gewebes. Kerstin Decker

„Lenin. Drama eines Diktators“, Arte, 22 Uhr 30

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