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Doku: Zwischen Moral und Justiz

Eine Arte-Dokumentation über den mutmaßlichen Vernichtungshelfer John Demjanjuk

Für zwanzig Tage ist der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk derzeit ausgesetzt. Zwanzig Tage lang ist der Bildschirm der Abendnachrichten frei von den immer gleichen Bildern, die einerseits eine sich drängende Menge von Interessierten, von Berichterstattern und Betroffenen zeigen, die in dem kleinen Prozesssaal kaum Platz finden werden, und andererseits den Blick auf einen Angeklagten richten wollen, von dem kaum mehr als seine Schirmmütze und der Halsansatz zu sehen ist. Da kommt eine Dokumentation gelegen, die, so ihr Titel, den „Fall Iwan Demjanjuk“ zum Exempel nehmen und die ausdrücklich der Frage nachgehen will, wie „jemand mit dem niedrigsten Dienstgrad in der NS-Hierarchie überhaupt verurteilt werden kann“.

Die Autoren Frank Gutermut, Sebastian Kuhn und Wolfgang Schoen konnten dafür Mittel für zahlreiche Reisen zwischen Cleveland, dem letzten Wohnort Demjanjuks vor seiner Auslieferung nach Deutschland, und seinem Geburtsort in der Ukraine in Anspruch nehmen. Dort, in Dubowi Macharynzi, einer überwiegend von Rentnern bewohnten Ortschaft, nimmt sich die Sekretärin des Dorfwartes der Besucher an und erzählt von der einstigen Gutmütigkeit und Geselligkeit des Angeklagten. Und führt ins Feld, es sei Krieg gewesen, da habe man Angst: „Was tut man nicht alles aus Angst?“ Ähnlich beteuert auch der Sohn von John Demjanjuk, sein Vater sei unschuldig, er sei „ein Opfer der Nazis“. Wie allerdings sollte er es anders wissen wollen?

Auch die Prozessbefürworter operieren nicht selten mit bloßen Hypothesen. Der in Trawniki bei Lublin von den Nazis ausgebildete Demjanjuk hätte ja den Dienst im Vernichtungslager Sobibor quittieren können, behaupten sie. Oder: Er hätte desertieren können. Ein Aufsatz in dem jüngsten „Jahrbuch für Antisemitismusforschung“ kann auf Hunderte von Trawniki-Männern hinweisen, die diesen Weg gewählt haben. Es ist ein moralisch starkes, juristisch aber leider schwaches Argument. Die Filmautoren fahren nach Trawniki in Polen, wo sich unter der NS-Besatzung jenes „Ausbildungslager für fremdvölkische Hilfstruppen“ befand. Demjanjuk war einer der 4000 bis 5000 Männer, die dort für den Einsatz im Dienste der deutschen Repressionspolitik vorbereitet wurden. Von dem Lager ist heute nichts mehr zu sehen. Die Spurenlese endet in der Befragung eines Historikers. Mit gleichem Resultat werden Aufnahmen aus Sobibor gezeigt, wo hunderttausende Deportierte umgekommen waren. Sobibor wurde von den Nazis vorsorglich dem Erdboden gleichgemacht.

Für die Mordtaten in Sobibor gibt es noch lebende Zeugen. Von diesen ist in jüngster Zeit wiederholt Thomas Toivi Blatt zu sehen gewesen, am eindrücklichsten in Peter Nestlers Film über „Die Verwandlung des guten Nachbarn“. Auch bei Gutermuth, Kuhn und Schoen durfte Blatt nicht fehlen: „Der ganze Vernichtungsprozess“, sagt dieser, „von Anfang bis End, war in die Hand von diese Demjanjuks, diese Ukrainer.“ Persönlich kann sich Blatt an Demjanjuk nicht erinnern. Die Autoren nehmen sich den in Amsterdam lebenden Rechtshistoriker Christiaan Rüter, einen der schärfsten Kritiker des Prozesses, zu Hilfe. Demjanjuk sei „eigentlich kein großer Fisch“. Ihn anzuklagen sei eine Konzession, politisch gewollt, aber, wie auch immer der Prozess ausgeht, politisch ein Fiasko – weil so unzählig viele an der Vernichtung der Juden aktiv Beteiligte, die eine weit höhere Verantwortung als Demjanjuk gehabt hätten, in Deutschland straffrei ausgegangen sind.

„Der Fall Iwan Demjanjuk“, Mittwoch, Arte, 21 Uhr 50

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