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Mehr als 100 000 Einsendungen wie der Geburtstagsgruß einer jungen Mannheimer Mutter erreichten Hitlers Privatkanzlei. Foto: MDR/Spiegel TV

© Spiegel TV Media/Jens MŸller-A

Dokumentation.: Strümpfe für den Führer

„Lieber Onkel Hitler“ – Spiegel TV bringt die Briefe der Deutschen an ihren Diktator ins Fernsehen.

Gertrud J. ist um ihren Führer besorgt und schreibt ihm während des Reichsparteitags im September 1938: „Bitte sich vor Erkältungen zu schützen. In Nürnberg ist es kalt.“ Margarete W. will ganz sicher gehen und schickt im selben Herbst ein Paket mit nützlichem Inhalt: „Während Sie das Sudetenland befreiten, habe ich diese Strümpfe gestrickt.“ Adolf Hitler wurde von vielen Deutschen nicht nur glühend aus der Ferne verehrt, man fühlte sich ihm ganz nahe und unterbreitete auch praktische Vorschläge. Wobei Männer eher das große Ganze im Sinn hatten und bis zuletzt Pläne für den „Endsieg“ entwickelten. Ein Willi E. beispielsweise schlug im Februar 1945 vor, die Alliierten mit Flugsand-Vorhängen in der Luft zu stoppen.

Die persönlich an Hitler adressierten Briefe wurden von dessen Privatkanzlei bearbeitet und gesammelt. Mehr als 100 000 Sendungen, die 1945 von der Roten Armee beschlagnahmt wurden, waren so im Laufe der Jahre zusammengekommen. Henrik Eberle, Historiker an der Universität Halle/Saale, hat das Archiv in Moskau vor einigen Jahren durchforstet und 2007 in dem Buch „Briefe an Hitler“ eine Auswahl aus der persönlichen Post an den Führer zusammengestellt. Zeitgeschichts-Spezialist Michael Kloft und Mathias von der Heide von Spiegel TV haben nun im Auftrag des MDR die 60-minütige Dokumentation „Lieber Onkel Hitler“ gedreht, die am Sonntag bei Arte Fernseh-Premiere feiert.

Die Brief-Auszüge werden von verschiedenen Sprechern aus dem Off gelesen, unter anderem von Schauspielerin Fritzi Haberlandt. Auf erläuternde Kommentare wird weitgehend verzichtet, allein die Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus illustrieren die persönlichen Eingaben, Treuebekundungen, antisemitischen Tiraden, Bittgesuche oder Liebesbriefe und setzen sie in den historischen Kontext. Das ist durchaus fragwürdig, denn die Bilder, die zum Teil Privataufnahmen sind, werden nun in einen anderen privaten Zusammenhang gestellt. Und wenn man keine passenden Aufnahmen gefunden hat, so scheint es, wird einfach mal der Führer hineingeschnitten. Während anfangs die bisweilen religiöse Verehrung von Adolf Hitler mit Jubel-Bildern aus der Nazi-Propaganda unterlegt wird, wirkt die Montage später oft wie ein Kommentar. Bevor der geistliche Vertrauensrat der Evangelischen Kirche Ende Juni 1941 „Treue und Einsatzbereitschaft“ versichert, werden Bilder von Massen-Erschießungen gezeigt.

Um den Stimmungswandel in Deutschland zu belegen, verlassen sich Kloft und von der Heide nicht nur auf die Briefe. Dass hier gelegentlich aus den damals verfassten Deutschland-Berichten der SPD und aus den Lageberichten des Sicherheitsdiensts (SD) zitiert wird, mag noch angehen. Kritischer ist dagegen die Vermischung mit Tagebuchaufzeichnungen, denn die haben keinen Adressaten (schon gar nicht Adolf Hitler). Was da etwa aus den Tagebüchern des im Exil lebenden Schriftstellers Klaus Mann zitiert wird, ist ohne weitere Kenntnis seiner Biografie kaum nachvollziehbar.

Am eindrucksvollsten bleibt der Film, wenn er auf die naive Ausdruckskraft der Briefe vertraut. Sie kommt in der Sorge um des Führers kalte Füße ebenso zur Geltung wie im Hass auf die Juden. Angesichts der unverlangt eingesandten „Gedichte“ – Deutschland, ein Volk von antisemitischen Hobbydichtern – und der Zeugnisse kindlicher Indoktrination – „Komm doch möglichst bald und erlöse uns von den Juden und Litauern“, schreibt ein 13-jähriges Mädchen aus dem Memelland – kann einen, gelinde gesagt, das Entsetzen packen.

„Lieber Onkel Hitler“, 22 Uhr 40, Arte

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