zum Hauptinhalt
Rollenwechsel.  Simon (Jonas Nay, rechts) übernimmt in der Familie immer mehr die Aufgaben seines Vaters (Tobias Moretti).

© BR/Christian Hartmann

Drama mit Tobias Moretti: Hirngespinster: Was die Psychose aus einem erfolgreichen Architekten macht

Der Sohn und sein kranker Vater, eine Coming-of-Age-Geschichte: Jonas Nay und Tobias Moretti in einem grandiosen Arte-Drama.

Simon Dallinger räumt schnell die Leiter weg, bevor die Nachbarn kommen. Das Unheil kann er damit natürlich nicht aufhalten. Soeben hat sein Vater die neue Satellitenschüssel auf dem Dach nebenan demoliert, am nächsten Tag wird die Polizei vor der Tür stehen.

„Geht's wieder los?“, fragt Simon seine Mutter. Hans Dallinger ist Architekt und fühlt sich verfolgt. Von seinem ehemaligen Geschäftspartner. Von der ganzen feindlichen Welt draußen. Er arbeitet Tag und Nacht, und das Modell eines neuen Bergbaumuseums in seinem Zimmer sieht ganz und gar nicht aus wie das Werk eines Mannes, der seine fünf Sinne nicht mehr beisammen hätte. Vermutlich ist es der Stress, der den nächsten Schub seiner Psychose auslöst. Simons Mutter redet ihrem Sohn und sich selbst ein, dass es nicht so schlimm werde: „Warten wir mal ab, das legt sich schon wieder.“

Das Drama „Hirngespinster“ von Christian Bach handelt davon, wie die Krankheit eines Mannes den Alltag seiner Familie bestimmt. Es geht auch mal heftig zu, etwa wenn Hans Dallinger auf die Fernsehtechniker mit der Axt losgeht. Aber ein solcher Gewaltausbruch bleibt die Ausnahme, es ist auch so beunruhigend genug, was die Psychose aus dem Vater, Gatten und einst erfolgreichen Architekten gemacht hat. Wirres Haar, irrer Blick: Auf den ersten Blick spielt Tobias Moretti das Klischee eines Verrückten. Immer wieder kippt sein Spiel jedoch ins Gegenteil, es gibt helle, wache Momente, mal blitzt Humor auf, der Entrückte scheint klar zu sehen.

Der österreichische Schauspieler Tobias Moretti („Das finstere Tal“, „Luis Trenker“) hat für die brillante und differenzierte Darstellung dieses psychisch Kranken, der mangels eigener Einsicht in seiner Krankheit gefangen bleibt, vor zwei Jahren den Bayerischen Filmpreis als Bester Hauptdarsteller erhalten. Den Nachwuchspreis gab es obendrein für Jonas Nay, 25, der mit seinen Hauptrollen unter anderem in dem ARD-Fernsehfilm „Homevideo“ und der RTL-Serie „Deutschland 83“ bereits eine beachtliche Schauspieler-Vita vorweisen kann.

Ersatzvater für seine kleine Schwester

Jonas Nay spielt Dallingers Sohn Simon, der das eigentliche Zentrum in Christian Bachs erstem Langfilm ist. Simon ist ein ruhiger, freundlicher, etwas schüchterner junger Mann, von dem man nicht recht weiß, ob die Ablösung vom Elternhaus nur wegen der Krankheit des Vaters nicht vorankommt. Er ist eine Art Ersatzvater für seine kleine Schwester Maja (Ella Frey) und versucht, gemeinsam mit seiner Mutter Elli (Stephanie Japp) die Familie zusammenzuhalten.

In diesem Alltag ist wenig Platz für Träume oder hochfliegende Pläne eines jungen Mannes auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Außerdem bedrückt ihn die Furcht, selbst an einer Psychose zu erkranken. Die Aussage des Psychiaters, der seinen Vater behandelt, dass die Kinder der Erkrankten in acht von zehn Fällen nicht betroffen seien, erscheint ihm nicht sehr ermutigend. All das hindert ihn auch daran, sich auf eine Beziehung zu Verena (Hanna Plaß) einzulassen, die er in einer Disco kennengelernt hat.

Christian Bach, der in seinem Film die Erfahrungen eines Freundes aufgegriffen hat, erzählt also vor allem eine Coming-of-Age-Geschichte. Der Autor und Regisseur kann sich in den klar und ruhig inszenierten Szenen ganz auf seine Darsteller verlassen. Aber das ist nicht die einzige Qualität von „Hirngespinster“.

Ein gewisser Optimismus

Der Film überzeugt auch dadurch, dass er sich nicht in düsterer Ausweglosigkeit verliert, sondern einen gewissen Optimismus bewahrt. Die Geduld und die Nachsicht, die Simon und vor allem die bedingungslos zu ihrem Mann stehende Elli aufbringen, wirken bisweilen schwer nachvollziehbar. Aber wer sagt, dass deutsche Familiendramen immer in der Familienhölle landen müssen? Auf sympathische, gar nicht kitschige Weise feiert „Hirngespinster“ die Liebe und den familiären Zusammenhalt.

Im Kino hat diese Koproduktion unter Beteiligung des Bayerischen Rundfunks trotz preisgekrönter Besetzung nur eine vierstellige Zuschauerzahl gefunden. Aber „Hirngespinster“ wäre nicht der erste deutsche Kinofilm, der erst im Fernsehen ein breiteres Publikum erreicht. Arte sendet anschließend noch zwei Dokumentationen („Stimmen im Kopf“, „Bipolar – Auf einem anderen Stern“), woraus ein etwas beliebig zusammengewürfelter Themenabend zu psychischen Krankheiten entsteht.

„Hirngespinster“, Arte, am Freitag um 20 Uhr 15

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false