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Lobo

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Ein Jahrzehnt online: Die digitale Dekade

Ein großer Teil des Lebens findet längst im Netz statt - das Über-Unternehmen Google führt alles zusammen. Sascha Lobo schreibt einen öffentlichen Text über die digitale Dekade.

Die Einteilung der Erinnerung in Jahrzehnte ist eine praktische Erfindung, die das kollektive Gedächtnis für den Einzelnen greifbarer macht. Blickt man etwa auf die 1980er zurück, dann kommt den meisten Menschen in Deutschland dasselbe in den Sinn: ein bisschen Friedensbewegung, Tschernobyl, Mauerfall. Das gesellschaftliche Erinnerungsprofil setzt sich zusammen aus Pop, Politik und Problemen internationaler Dimension, wobei Nicoles „Ein bißchen Frieden“ eines der wenigen Ereignisse war, das in alle drei Kategorien gleichzeitig fiel. In den 1990er Jahren dürften die zentralen Begriffe noch um eine Spielart des Pop, Fußball nämlich, erweitert werden. Es ergibt sich: Golfkrieg, Generation Golf, Grunge und Fußballweltmeister ’90. Was aber wird die deutschsprachige Welt von den nuller Jahren in Erinnerung behalten, die vorbei sind, bevor man sich auf einen anständigen Namen für sie geeinigt hat?

Ich glaube, dass diese Frage anders beantwortet wird als in den Jahrzehnten zuvor. Denn mit dem Internet ist alles digital dokumentiert und jederzeit verfügbar. In den letzten zehn Jahren ist das Netz neben seinen Funktionen als elektronisches Metamedium und wirtschaftliche Infrastruktur auch zur digitalen Universalchronik der Menschheit geworden. Die Einordnung in Jahrzehnte – früher ein kommunikativer Anknüpfungspunkt, um sich gemeinsam zu erinnern, ob man schon Karottenhosen oder noch Schlaghosen anhatte, als die erste Platte von Depeche Mode herauskam – hat an Bedeutung verloren, weil sich in Sekunden alle Daten und Fakten herausfinden lassen. Die Erinnerung gerät vom Gefühl zur Googlebarkeit. Umso wichtiger, noch einmal die Erinnerung an die entscheidenden Entwicklungen im Internet Revue passieren zu lassen, unseren Weg in die digitale Gesellschaft.

Gleich in den Anfangssekunden der Dekade standen Computer und Internet im Fokus der Öffentlichkeit: das angebliche Y2K-Problem, bei dem der Jahrtausendwechsel durch die Vernetzung der Rechner zu unvorhersehbaren Konsequenzen hätte führen können. Dieser hysterische Grundton sollte im Umgang mit dem Netz über Jahre stilprägend bleiben. Nur Stunden, nachdem aus allen Winkeln der Welt Entwarnung gegeben worden war, widmete man sich wieder dem psychologischen Phänomen der New Economy. Die jungen Firmen, die das Internet zu beherrschen vorgaben, schürten eine Goldgräberstimmung. Unternehmen mit aberwitzigen Geschäftsmodellen wurden von bis dahin seriösen Finanziers mit Risikokapital überhäuft und warfen es mit beiden Händen sowie eigens angeheuerten Helfershänden aus dem Fenster. Die dahinterstehende Hysterie, heute als Blase 1.0 bezeichnet, gehört zu den bekannten Effekten bei der Einführung neuer Großtechnologien. Schon in den 1920er Jahren schrieb der Zukunftsforscher Roy Amara: „Wir neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie kurzfristig zu überschätzen – und langfristig zu unterschätzen.“

Dieses Muster erklärt auch das Schwanken zwischen Überhöhung des Internet und seiner Ablehnung bis zur Verleugnung, das bis heute zu beobachten ist. Spätestens mit dem ersten weltweit live übertragenen Terroranschlag, der Flugzeugattacke des 11. September 2001, erstarb die New Economy. Nebenbei hatten die Anschläge einen messbaren Effekt auf die Internet-Nutzung. Spiegel Online etwa wurde durch die Berichterstattung, beinahe in Echtzeit, zum digitalen Leitmedium in deutscher Sprache. Viele Menschen begriffen, dass das Fernsehen zu linear und die Printpresse zu langsam für das akut gesteigerte Informationsbedürfnis der Digitalen Dekade war. Das Internet geriet in den Tagesablauf des Durchschnittsdeutschen.

Die vielen von der New Economy ausgespuckten Menschen mochten ihren Glauben an die digital vernetzte Wirtschaft verloren haben. Sie wandten sich trotzdem nicht vom Netz ab, sondern erforschten die Bereiche des Internet, in denen der schnelle Börsengang keine Rolle spielte. Nicht zufällig erhoben sich aus der Asche der Dotcoms Seiten wie Wikipedia, die unzähligen Foren und die deutschsprachige Bloglandschaft, die zumeist als nichtkommerziell gelten müssen. Ganz normale Menschen beschäftigten sich mit den Veröffentlichungsmöglichkeiten, die das Internet ihnen bot. Ihr Antrieb war nichts als die Begeisterung für ein Thema – genau das darf als Zündfunken des „Web 2.0“ gelten, in dem Menschen ohne Auftrag und ohne Bezahlung produzieren, neu arrangieren, publizieren und kopieren.

In Deutschland verlief die Entwicklung der individuellen Medien schleppend, bis Mitte des Jahrzehnts die Social Networks das Land eroberten: zuerst bei Studenten mit StudiVZ, dann bei Schülern durch SchuelerVZ und schließlich fand die breite Masse mit Wer-kennt-wen ihren Weg in die soziale Interaktion via Internet. Am Ende der digitalen Dekade heißt, wie fast überall auf der Welt, das erfolgreichste Social Network in Deutschland Facebook. Daraus hat sich zusammen mit Twitter ein ständiger, mobil vernetzter Strom von persönlichen wie medialen Informationen entwickelt – die Vorboten der nächsten großen Welle nach dem Web 2.0: des Echtzeit-Netzes.

Das ist die entscheidende Entwicklung für die mediale Realität und damit für das kollektive Gedächtnis der Zukunft: Es besteht nicht mehr nur aus den Inhalten der Massenmedien, sondern aus einem unentwirrbaren, für jeden einzigartigen Gemisch von medialen und privaten Publikationen – auffindbar gemacht durch Google, dem Über-Unternehmen des Jahrzehnts. „Was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, schrieb Niklas Luhmann 1995. In der digitalen Dekade müsste der Satz lauten: „Was wir über die Welt wissen, finden wir mit Google“. Die gesellschaftlichen Problematiken, die sich daraus ergeben, sind noch längst nicht ausreichend erforscht; vielleicht erfordert das auch einen Luhmann 2.0, der bis jetzt nicht in Sicht ist.

Mit der Verlagerung eines Teils unseres Lebens ins Internet – nichts anderes bedeutet der Erfolg der sozialen Netzwerke – haben wir uns hin zur digitalen Gesellschaft verändert. Die wichtigste Veränderung der letzten zehn Jahre ist, dass Gesellschaft inzwischen im Netz stattfindet. Nicht ausschließlich, aber maßgeblich. Auch die scheinbaren Schlagworte für die nuller Jahre – 9/11, WM, Obama – zeigen das. Denn die ungefähre Basis der kollektiven Erinnerung bleibt zwar durch die massenmediale Nachrichtenlage bestimmt. Im Netz aber haben sich machtvolle Mikro-Öffentlichkeiten entwickelt, die zum Beispiel die Keimzelle für den Erfolg von Barack Obama waren. Sie funktionieren nach eigenen Regeln und haben oft nur geringe Schnittmengen mit der vermeintlichen, kollektiven Erinnerung der Massenmedien. Beispielhaft lässt sich das bereits am meistgegoogelten Wort des Jahres 2003 in Deutschland ablesen. Es lautet „Yu Gi Oh“ – noch weit vor „Routenplaner“ und „Paris Hilton“. Wer keine schulpflichtigen Kinder hat, dem wird das wenig sagen. Es handelt sich um eine japanische Comic-Welt mit eigenen TV-Sendungen, Communities, Comicheften, Kartenspielen, Veranstaltungen und abertausenden Fan-Artikeln, kurz: um eine Jugendkultur riesigen Ausmaßes, um die Lebensrealität von hunderttausenden jungen Menschen. Spätestens, wenn die Kinder, die damals „Yu Gi Oh“ gegoogelt haben, erwachsen sind, wird die kollektive Erinnerung sich kaum mehr in drei Worte fassen lassen, sondern aus einer diffusen Wortwolke mit hunderten Begriffen bestehen, die dazu noch jeder aus einer anderen Perspektive betrachtet. Willkommen in den Zukünften.

Sascha Lobo

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