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ERSTE TV-WAHL: Politik ist Pop

Die Fußball-WM ist langweilig, der Bundespräsident nicht. Das Fernsehen macht die Wahl und sich groß.

Und das hätte man am Ende dann auch nicht für möglich gehalten, dass er nämlich ein großer Fernsehtag wurde, dieser 30. Juni, ein WM-freier Mittwoch, knalleheiß, ein Dutzendtag eigentlich. Wenn dann halt nicht der Bundespräsident gewählt worden wäre und sich zum Beispiel die ARD dazu entschlossen hätte, einfach mal bis spät in die Nacht durchzusenden. Und es war ja jetzt auch nicht so, dass da dauernd was passierte während dieser Übertragung, die meiste Zeit passierte eigentlich nichts, aber bei Brasilien gegen Portugal passierte die meiste Zeit auch nichts, trotzdem schaut man sich das ja an.

Und weil die Wahl dies Bundespräsidenten tatsächlich am ersten spielfreien Tag dieser unsäglichen Fußball-Weltmeisterschaft stattfand, bekamen die Metaphern, um im Bild zu bleiben, Stollenschuhe: Es kam zur Verlängerung, wenn nicht sogar im dritten Wahlgang zum Elfmeterschießen. Es ging darum, welches Team welche Taktik an den Tag legen würde und wie der Teamchef seine Mannschaft einschwört. Es ging um Sieg und es ging um Niederlage und vor dem Reichstag fand tatsächlich ein sogenanntes Public Viewing statt. War diese Bundespräsidentenwahl also so etwas wie ein WM- oder gar ein Eventersatz?

Was diese Bundespräsidentenwahl tatsächlich war und en détail bedeutete, das stand in dieser Zeitung gestern und es steht in dieser Zeitung heute an anderer Stelle, die Übertragung der Bundespräsidentenwahl war für die Zuschauer ein Genuss, großes Fernsehen, Politikvermittlung vom Feinsten wie es das sehr lange nicht mehr gegeben hat – und vor allem mit etwas, was es eigentlich noch nie gegeben hat: einer guten Ausgabe der Talksendung „Hart aber fair“. Es muss also wirklich ein besonderer Tag gewesen sein.

Man sah das auch an Tom Buhrow, dem das Moderieren der „Tagesthemen“ zum ersten Mal seit vier Jahren offensichtlich einen Heidenspaß gemacht hat – so berauscht war er von den Ereignissen. Und man sah das an Moderator Frank Plasberg, und zwar eben deshalb, weil seine Politshow dieses Mal mit ganz wenig Einspielfilmen und mit ganz wenig Moderator Plasberg auskam, dafür aber mit ganz viel Hans-Ulrich Jörges. Es war ja nicht die erste Talkshow, in der der „Stern“-Mann zu Gast war und oft geht er einem ja furchtbar auf die Nerven, aber wie er Mittwochabend erzählte und interpretierte und wie er mit Leidenschaft über diesen „großen Tag der Demokratie“ geredet hat – das war nie langweilig.

Das passte zum Schlusspunkt eines 30-Tages-Rausches, der mit der Nominierung von Joachim Gauck begann. 30 Tage, in denen Politik wieder spannend wurde, in denen Politik wieder Hoffnung bedeutete und Gestaltungswillen und Versöhnungsversuche. 30 Tage, in denen sich auch im Internet junge Menschen für das „Projekt Gauck“ begeistert haben. 30 Tage, die bewiesen haben, dass das nicht enden wollende Gerede von der Politikverdrossenheit der Deutschen vielleicht doch ganz großer Unsinn sind. Und ein Tag, der Mittwoch, in dem das öffentlich-rechtliche Fernsehen offensichtlich diesen Schwung, diesen Geist mitgenommen und gezeigt hat, wie man das macht: dem Zuschauer Politik und Demokratie zu vermitteln.

An vielen Tagen im Fernsehjahr kann die Angleichung der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme an die privaten Kanäle beklagt werden. Am Mittwoch haben ARD und ZDF eindrucksvoll bewiesen, zu welchen Unterschieden, zu welcher Unterscheidbarkeit sie in der Lage sind – wenn sie es denn wollen. Das Erste wollte gar nicht mehr aufhören: Was um 11 Uhr 34 begann, war um Mitternacht noch nicht zu seinem Ende gekommen. Konsequent wurde das geplante Programm aus Soap, Boulevard und „Bloch“ abgeräumt für eine Berliner Mischung aus Fußball-WM, „Tatort“-Krimi und engagierter Politberichterstattung. Wie ein Spinnennetz hatte sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen über den Ort des Geschehens, den Reichstag, gelegt. Schier an jeder Ecke stand eine kundige Mitarbeiterin, ein versierter Mitarbeiter, um Spannung, Stimmung und Stimmen einzufangen. Angeführt von den „Anchor“-Männern Ulrich Deppendorf vom Ersten und Theo Koll vom Zweiten, waren die Sender klug beraten, dass sie sich in all der Wuselei und Hektik Inseln für Zwischenstände und Interpretationen, horribel oder plausibel, geschaffen hatten.

Verschiedene Stärken wirkten zusammen. Ums „Livehaftige“ kümmerten sich die kundigen Journalisten von ARD und ZDF, für die Expertise sorgten Politik-Professor Everhard Holtmann und Printprofis wie Hugo Müller-Vogg („Bild“) für das Erste, für das Zweite analysierten Tissy Bruns (Tagesspiegel) oder Georg Mascolo („Der Spiegel“). Stets war der Zuschauer doppelt im Bilde. Durch die Länge der Übertragung war etwas zu sagen und zu zeigen, handelnde Personen bekamen ihren Auftritt, Persönlichkeiten ihre Statur, Argumente ihren Raum.

Radio, die Onlineportale der Zeitungen und Magazine, wer war da nicht in besonderer Weise engagiert und von der Mammutaufgabe bei aller Anstrengung euphorisiert? Twitter, das noch die letzte Präsidentenwahl wegen vorzeitig „gezwitscherter“ Ergebnisse geprägt hatte, rumorte mächtig, eine fragwürdige Prognose jagte die nächste. Ein Twitterer unter dem Decknamen der Schauspielerin Martina Gedeck, Wahlfrau der Grünen, war besonders fleißig beim Verbreiten von Irrtümern. Twitter, ein Ausfall.

Welcher Fernsehsender auch immer die Bundespräsidentenwahl zu seinem Programm machte, der wurde vom Zuschauervolk eingeschaltet. RTL reüssierte mit seinen eingestreuten „Spezial“-Sendungen, das ZDF lag mit seiner Programmkonzentration richtig. Die ARD handelte mit ihrer fast zwölfstündigen Livestrecke am konsequentesten, konsequenterweise belohnt vom Publikum. Der „Brennpunkt“ um 20 Uhr 15 holte Platz eins in der Quotentabelle, gefolgt von „Tagesschau“ und „Tagesthemen“, „Hart aber fair – extra“ mit Start um 22 Uhr 23 wurde von 3,17 Millionen Zuschauern gewürdigt. Um Längen übertrumpften ARD (17,1 Prozent) und ZDF (16,7 Prozent) bei den Tagesmarktanteilen die privaten Wettbewerber.

Zu was wäre das Fernsehen wohl in der Lage, wenn es bald Neuwahlen gäbe?

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