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Medien: Fernsehabend mit Kurt Scheel: Was der Literaturwissenschaftler bei "Big Brother" über den Zustand der Bundesrepublik gelernt hat

Freitagabend, 20 Uhr 15. Die Wohnung an der Charlottenburger Mommsenstraße sieht so aus, wie man sich die Wohnung eines Intellektuellen gemeinhin vorstellt.

Freitagabend, 20 Uhr 15. Die Wohnung an der Charlottenburger Mommsenstraße sieht so aus, wie man sich die Wohnung eines Intellektuellen gemeinhin vorstellt. Hohe Wände, Parkettfußboden, antike Möbel. Im Wohnzimmer ist ein lederner Lesesessel zwischen überfüllten Bücherwänden eingekeilt. Adorno, Brecht, Kleist. Doch der Hausherr hat jetzt keine Zeit für schöngeistige Lektüre, er greift - wie in den letzten dreieinhalb Monaten jeden Abend um diese Zeit - zur Fernbedienung seines Fernsehers. Auf dem Bildschirm erscheint eine frenetisch jubelnde Menge vor dem RTL 2-Wohncontainer in Köln-Hürth, unterlegt von der Showhymne "Leb so wie du dich fühlst." Kurt Scheel ist "Big Brother"-süchtig. Von den 100 Folgen der Observations-Soap hat er "allenfalls drei oder vier verpasst". Dass ausgerechnet ein eingeschworener Bewohner der Gutenberg-Galaxis vom Hochsitz seines Elfenbeinturms in die Hölle der TV-Spaßkultur hinabsteigt, erscheint einigermaßen bizarr. Scheel ist Herausgeber des "Merkur", einer Monatszeitschrift, in der sich von Enzensberger bis Habermas die Elite der bundesdeutschen Eggheads gerne in besorgten Essays über den Zustand der Nation äußert. Normalerweise benutzt er sein TV-Gerät nur, um Nachrichten zu sehen. "Am Anfang, als einige Politiker Big Brother am liebsten verboten hätten, hab ich gesagt: Jetzt wird erst recht geguckt", erzählt Scheel, "aber nach zehn Tagen fand ich die Sendung dann wirklich toll."

20 Uhr 47. Die ersten Livebilder von den Bewohnern: Jürgen joggt durch den Garten, Andrea packt ihren Koffer. Für den 52-jährigen Literaturwissenschaftler waren die 100 Tage von Hürth ein "Humanexperiment, nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch für die Zuschauer". Scheel, allabendlich vor seinem Gerät hockend, kam sich vor, als wäre er in dem ungastlichen, mit Fernsehkameras bestückten Wohncontainer "quasi mit eingeschlossen". Er sieht sich in der Rolle eines Feldforschers, der "in den Urwald aufbricht, um mit wilden Menschen zusammenzuleben." Wobei es sich bei diesen Wilden um Angehörige eines Stammes aus der exotischten Ferne handelt, die man sich nur vorstellen kann: der von nebenan. "Durch Big Brother habe ich etwas gelernt über die Bundesrepublik", sagt Scheel, "nämlich wie wenig ich weiß über die Menschen, mit denen ich zusammenlebe." So fremd kamen ihm diese Menschen vor, dass er sie bei ihren seltsamen Verrichtungen vor dem Fernseher mit offenem Mund angestaunt hat: Wie sie ihre tätowierten Körper einölten, wie sie sich mit Turnübungen stählten, wie sie in der Couchecke in einer eigentümlichen Alles-supergeil-Stummelsprache über den Sinn des Lebens diskutierten. "Eine Figur wie Zlatko erschien mir wie aus einem anderen Universum entsprungen. Ich habe nie mit solchen Leuten gesprochen. Nicht weil ich zu arrogant bin, sondern weil ich sie einfach nicht kennen lerne." Und das Erstaunlichste: Selbst der Shakespeare-Ignorant Zlatko ist dem Kleist-Fan Scheel ans Herz gewachsen.

21 Uhr 04. Auf der Bühne vor dem Container präsentiert Zlatko seine neue Single: "Verdammt, ich bleibe, wer ich bin." Endlich ist Scheel bei der RTL 2-Hotline durchgekommen: "Ihre Stimmabgabe war erfolgreich", sagt die Computerstimme am anderen Ende der Leitung und signalisiert damit, dass seine Wertung für den Kandidaten John registriert ist. Auch Scheels Freundin Ulrike will es gleich mal versuchen. Von der Idee, das Treiben im Big Brother-Haus aus der sicheren Distanz des unbeteiligten Ironikers zu verfolgen, hat sich Feldforscher Scheel schon bald verabschieden müssen. "Mir ging es wie einem Ethnologen im Busch: Ich wurde mehr und mehr hineingezogen in die Aktionen der Wilden." Aus dem teilnehmenden wurde rasch ein anteilnehmender Beobachter. Während er sich bei manchen Äußerungen der Spaßfraktion um Jürgen, Zlatko, Sabrina "manchmal vor Schmerzen krümmen musste", wurde ihm die Oppositionsgruppe um Alex, Kerstin, Manu immer sympathischer. Jürgen, den penetrant gut gelaunten Kölner, hält er für "den größten Schleimer, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe." John, dem wortkargen Potsdamer Hausbesetzer, attestiert er hingegen, "eine ehrliche Haut" zu sein.

21 Uhr 34. Die erste Verliererin des Abends steht fest: Andrea muss den Container verlassen. Durch das "soziale Experiment" Big Brother, sagt Scheel, habe er nicht nur etwas über die Welt, sondern mehr noch über sich selber erfahren. "Ich bin doch nicht der durchironisierte Typ, für den ich mich immer gehalten habe. Die Containerbewohner hätten mir doch genauso scheißegal sein können wie die Ballermann-Prolls, bei denen ich immer gleich wegzappe, wenn ich sie im Fernsehen sehe. Waren sie mir aber nicht." Wenn im Fernseh-Obsvervatorium Tränen flossen - sei es beim Auszug eines Zimmergenossen oder beim Betrachten eines "Titanic"-Videos - war auch Scheel erschüttert. Gegen das Adorno-Diktum "Fun ist ein Stahlbad", das der "Spiegel" gegen Big Brother in Stellung gebracht hatte, wendet sich der "Merkur"-Herausgeber deshalb mit Luhmanns Begriff von der "Beobachtung des Beobachters". Die Versuchsanordnung in der Hürther Wohnbaracke: ein "hochkomplexes Setting", das auch den Zuschauer zum Teilnehmer macht. An RTL 2 lässte Scheel trotzdem kein gutes Haar: Ein "Verbrechersender" sei das, weil er die Spielregeln manipuliert und "durch das Einschleußen Sabrinas Stimmung zugunsten Jürgens gemacht" habe.

22 Uhr 27. Moderator Percy Hoven gibt das Ergebnis der Telefonabstimmung bekannt: "John ist der Sieger." Jubel an der Mommsenstraße. Scheel und seine Freundin springen von ihren Sitzplätzen auf und klatschen sich ab wie Basketballspieler nach einem gelungenen drop-kick. "Das war schon immer so", sagt Scheel, "bei den wirklich wichtigen Wahlen entscheiden sich die Deutschen richtig". Auch der "Merkur"-mann hat sich entschieden: Nach 100 Tagen Big Brother will er sich eine solche TV-Tortur nicht noch einmal antun. Wenn im Herbst die zweite Staffel startet, greift er lieber wieder zum guten Buch.

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