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Fernsehen: Gott ist mega – Die „Jesus Freaks“ von Berlin

Meist herrscht in deutschen Dokumentarfilmen eine forsche Fröhlichkeit. In "Jesus Freaks" sieht man einmal, wie viel abgrundtiefe Verzweiflung hinter zur Schau gestellter Lustigkeit stecken kann.

„Wo ist eure Leidenschaft“, ruft der junge Bursche auf der Bühne und fordert die auf einer Wiese versammelten mehreren hundert Jugendlichen auf: „Lasst sie raus!“ Verzückt erheben die ersten im Takt der Musik die Arme, tanzen, springen in die Höhe. Glaubenszeugen treten auf und preisen Jesus, dass er sie vom Joch des Satans erlöst habe. „Wir sind frei, wir sind gerettet“, jubeln sie und freuen sich: „Jesus haut uns raus.“

Zu denen, die hier irgendwo im Brandenburgischen ihr christliches Coming- out feiern, gehören auch Helke, die ein Kind hat, Mireille, der Gott befahl, dass sie Sozialpädagogik studieren soll, und Claire, deren familiäre Wurzeln in Korea liegen. Sie sind Mitte zwanzig und ringen mit den Versuchungen des Fleisches: Alkohol, Sex, Angstanfälle bis zum Herzrasen, Selbstmordgedanken. Alle drei brauchen moralische Hilfe, um ihr Leben in den Griff zu kriegen. Doch für jede von ihnen werden die „Jesus Freaks“, diese von Amerika nach Europa übergesprungene freikirchliche Bewegung, nur eine Station bei der schwierigen Suche nach Lebenshalt und Lebensaufgabe sein.

Anne Pütz hat mit ihrem von Andres Veiel betreuten spannenden Abschlussfilm an der dffb Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin einen künstlerischen Spagat versucht. Die Porträts der drei jungen Frauen geben Einblick in eine schwärmerische Hippie-Bewegung, deren Rituale an Wiedertäufersekten am Ausgang des Mittelalters erinnern. Anne Pütz stellt keine Fragen, sie zeigt den Katzenjammer, der dem autosuggestiven Höhenflug folgt. Nach dem fulminanten Einstieg und einigen attraktiven Szenen wie der von der „Anti-Dämon-Demo“ auf dem Alex („Statt Alk zu saufen, lasst euch lieber mit dem heiligen Geist auffüllen“) und von einem „Jesus-Abhäng-Abend“ im altarfreien Treffpunkt „Lichtblick“ verliert der Film jedoch an Tempo und Kraft. Er hält sich nicht bei Struktur und Organisation dieser von beiden christlichen Kirchen mal tolerierten, mal kritisierten Nachwuchsformation auf, sondern will ausschließlich beobachten. Meist herrscht in deutschen Dokumentarfilmen eine forsche Fröhlichkeit, hier aber sieht man einmal, wie viel abgrundtiefe Verzweiflung hinter zur Schau gestellter Lustigkeit stecken kann. Hans-Jörg Rother

„Jesus Freaks“, Donnerstag 23 Uhr 15, WDR

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