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Fernsehen: Im Schatten der Mutter

Das Erste zeigt heute Abend den beeindruckenden Spielfilm Schattenkinder: Ein bewegendes Familiendrama über Gewalt gegen Kinder, das mit subtilen Mitteln beklemmende Spannung aufbaut.

Von Caroline Fetscher

Im Kinderzimmer sitzt ein spielendes Mädchen auf dem Boden. Eifrig und murmelnd hantiert es an einer Puppe herum. Kaum eine Szene könnte harmloser wirken. Therese, blond, scheu und mager, gut acht Jahre alt, wird in ihrem Spiel von der Tante beobachtet, die schweigend im Türrahmen steht, ohne dass es das Mädchen bemerkt. Sie sieht das Kind „Klinik“ spielen. Am Arm der Puppe ist mit Klebeband ein Schlauch befestigt, über die Plastikwangen sickert ein wenig Wasser. Das Kind küsst die Puppe und flüstert: „Mama weiß, was für dich gut ist.“ Für den Bruchteil einer Sekunde scheint die Tante ein Schauder zu packen. Doch auf einmal dreht sich das Kind zur Tür und fragt, alltäglich, wie jedes andre Kind fragen würde: „Liest du mir vor?“ Lächelnd willigt die Tante ein und schüttelt ihre Bedenken ab. Als Gast bei ihrer Schwester will sie sich wohl fühlen, nicht Argwohn aufkommen lassen.

Die Welt ist ja auch zunächst in Ordnung in diesem Szenario. Da haben wir einen kleinen Haushalt, wo Mutter Sandra (Beata Lehmann), die ihre Mädchen Agnes und Therese allein erzieht, seit sie den Vater verlassen hat, sich rührend um alles kümmert, was der Alltag von ihr fordert. In der Altbauwohnung mit dem wilden Vorgarten toben die Töchter miteinander. Fürsorglich backt und bügelt die Mutter, ermahnt ihre Kinder zur Vorsicht und achtet vor allem auf Gesundheit. Agnes, die Ältere, ist häufig krank, Mamas Sorgenkind. Beherzt breitet diese auf dem Couchtisch im Wohnzimmer medizinische Fachliteratur aus, vertieft sich in dicke Lehrbücher und studiert die Beipackzettel von Pillenschachteln. Bald weiß sie vieles besser als die Ärzte, die bei dem Kind vor einem Rätsel stehen. Als Agnes während einer Aufführung des Schultheaters zusammenbricht, als ihre Odyssee durch Praxen und Krankenhäuser kein Ende nimmt, wird Sandras Schwester hellhörig. Grimme-Preisträgerin Karoline Eichhorn entwickelt sich in dieser Rolle von der unbeschwerten Besucherin zur heimlichen Beobachterin. Das Mädchen Agnes erliegt ihren diffusen Leiden, ohnmächtig müssen die Erwachsenen zusehen. „Agnes Krankheit hat mit uns Katz und Maus gespielt“, seufzt die Ärztin (überzeugend: Renan Demirkan). Wochen später beginnt auch bei der zweiten Tochter, Therese, ein Leiden, für das die Mediziner keine Diagnose finden. Allmählich verdichtet sich ein horrender Verdacht.

Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

„Schattenkinder“, entstanden unter der Regie von Claudia Prietzel und Peter Henning, ist ein meisterhaftes und mutiges Kammerspiel des Grauens. Der Film schildert einen Abgrund mütterlichen Verhaltens, von dem man bis vor wenigen Jahren nichts ahnte. Es geht um eine seelische Erkrankung, das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, 1977 erstmals von dem britischen Kinderarzt Roy Meadow beschrieben. Mütter mit diesem Syndrom verschlimmern oder fingieren vorsätzlich Krankheiten ihrer Kinder. Oft stammen die Frauen aus der Mittelschicht und verfügen über einiges an Bildung. Ihre schwere Persönlichkeitsstörung geht auf traumatische Erlebnisse zurück, die sie jedoch komplett verdrängen.

Seit das Syndrom bekannt ist werden weltweit, seit Kurzem auch in Deutschland, mehr und mehr Ärzte und Krankenschwestern geschult, um auf Anzeichen für diese Störung achten zu können. Fachleute glauben, dass sie häufiger vorkommt, als bisher vermutet. Wie Sandra, die Mutter der „Schattenkinder“, funktionieren die Frauen, abgesehen von krisenhaften Phasen, nach außen hin normal. Doch ihre zum Opfer ausgewählten Kinder betrachten sie als Teil von sich selbst, als Fetische, als „Spielsachen“. Auf dem Körper des Kindes agieren diese fatal „fürsorglichen“ Mütter stellvertretend ihr eigenes, abgespaltenes Trauma aus.

In der Seele des Kindes baut sich währenddessen eine Hitchcock-Hölle auf, für die das Kind keine Worte findet. Wie Agnes und Therese in „Schattenkinder“ fühlen sie, dass etwas an der „guten Mutter“ zutiefst bedrohlich ist, wagen aber nicht, den Defekt zu erkennen. Werden solche Mütter mit ihrem Verhalten konfrontiert, leugnen sie selbst stärkste Beweise und können suizidal werden. Die Darsteller von „Schattenkinder“, besonders Beata Lehmann als gespenstisch gestörte Mutter, doch auch Renan Demirkan als Ärztin, spielen ihren Part mit subtiler Zurückhaltung und Intensität, überzeugend nicht nur für jene, die mit dem Thema vertraut sind. „Schattenkinder“ ist ein preisverdächtiger Film, und zugleich ein wertvolles Stück Aufklärungsarbeit.

„Schattenkinder“, ARD, 20 Uhr 15

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