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Die 16-jährige Luca hat zwei Menschen erschossen und schweigt. Foto: WDR

© WDR

Fernsehfilm: Die Dämonen

Eine Schülerin, ein Amoklauf, keine Antworten: Wieder ein sozialkritischer Stoff von Aelrun Goette.

Erfurt, Winnenden, Utoya – was geht in einem Amokläufer vor? Warum hat er das getan? Hätte man vorher etwas ahnen können? Nach der schrecklichen Bluttat kommt die Ursachenforschung, die auch für die Angehörigen des Täters unerträglich schmerzvoll sein kann. Oder für die Familie der Täterin, in diesem Fall der 16-jährigen Luca, mit deren beharrlichem Schweigen uns die preisgekrönte Regisseurin und Autorin Aelrun Goette in „Ein Jahr nach morgen“ konfrontiert.

Ein Jahr ist es her, dass Luca eine Lehrerin und eine Mitschülerin erschossen hat. Nun beginnt der Prozess gegen die Schülerin in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Freunde und Eltern, sowohl der Opfer als auch der Täterin, versuchen vergeblich, in ihr Leben vor der Tat zurückzufinden. Alle quält die Frage nach dem Warum. Eine Antwort könnte schon helfen.

Dass Aelrun Goette dem zur besten Primetime im Fernsehen kein „Deshalb“ oder „Darum“ entgegenhält, ist bemerkenswert genug. Selbst die gegen den Mainstream gebürsteten Qualitäts- und Problemfilme am Mittwochabend im Ersten lassen sich auf Druck der Redakteure ja allzu oft auf Konsens-Lösungen ein. Oder erst mal auf den spektakulären Showdown selber. Den gibt es hier auch nicht. In „Ein Jahr nach morgen“ gibt es gar keinen Konsens. Der Film beginnt, wo die Schlagzeilen enden.

Die 16-jährige Luca Reich, grandios gespielt von der 22-jährigen Newcomerin Gloria Endres de Oliveira, hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen. Ein Jahr nach der Tat wird ihr der Prozess gemacht. Auch der Vater, Jürgen Reich (Rainer Bock), wird wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, weil Luca Zugang zu seinem Jagdgewehr hatte. Doch die junge Frau schweigt und treibt damit ihre Mutter Katharina (Margarita Broich) immer mehr zur Verzweiflung. Unter den Opfern des Mädchens ist auch die Lehrerin Anna Nagel. Ihr Mann Klaus (Matthias Bundschuh) hat zunehmend Probleme, den Alltag zu bewältigen. Sein Sohn Julius (Maurizio Magno) kann nicht begreifen, dass seine Mutter nie mehr zurückkommen wird. Und Lucas Mitschüler Julius (Jannis Niewöhner) macht sich Vorwürfe, dass er nicht rechtzeitig mitbekam, was in Luca vorging. Innere und äußere Dämonen, wohin man auch sieht.

Wie gesagt, man erwarte keinen Wohlfühlfilm. Goette hat es auf bemerkenswerte Weise gewagt, unser Verlangen nach Aufklärung, Deutung, Entschuldigung und Sühne nach einem Amoklauf einfach so im Raum zu stehen zu lassen. „Ein Jahr nach morgen“ ist eine Studie über menschliche Beziehungen, insbesondere über die von Mutter und Tochter, über Sprachlosigkeit, über Nähe und Vertrauen, über Einsamkeit und Unverständnis außerhalb und innerhalb der Familie. Es hätte dafür auch eine andere unerhörte Begebenheit der Anlass sein können. Der juristische Plot selber, der Amoklauf, Lucas Verhandlung, spielen nur am Rande eine Rolle.

Es gibt keine Erlösung. Aelrun Goette, die sich, wie sie sagt, bei ihren Film nie gerne auf der sicheren Seite bewegt („Tatort – Der glückliche Tod“, „Keine Angst“), stieß bei der Vorbereitung auf ein 1979 in Kalifornien begangenes Attentat durch eine 16-Jährige. Als Grund für ihre Tat, für die sie nie Reue gezeigt hat, sagte das Mädchen schlicht und ergreifend: „I don’t like Mondays.“ Das wurde wenig später ein Welthit der Boomtown Rats. Und die Klammer, der Soundtrack dieses verstörenden, großartigen Films. Markus Ehrenberg

„Ein Jahr nach morgen“,

ARD, 20 Uhr 15

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