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Medien: Fernsehmuseum: Die Ansprache

Die Ansprache wurde erfunden, da gab es das Fernsehen noch nicht lange. Die Form stammte aus dem Radio, der Bildschirm ermöglichte darüber hinaus geschickte optische Inszenierungen.

Die Ansprache wurde erfunden, da gab es das Fernsehen noch nicht lange. Die Form stammte aus dem Radio, der Bildschirm ermöglichte darüber hinaus geschickte optische Inszenierungen. Heute kommt die Ansprache fast nur noch an Weihnachten und zum Jahreswechsel vor, und, lange dachte man, sie sei vom Aussterben bedroht. Nun erlebt sie allerdings eine überraschende Renaissance, was mit dem 11. September zu tun hat. Viele Menschen sind verunsichert.

Niemand fand bislang eine stärkere Antwort darauf als der Papst. Mit letzter Kraft spendete Johannes Paul II. am ersten Weihnachtstag den traditionellen Segen "Urbi et orbi". Die Friedensbotschaft wurde vom Vatikan in mehr als sechzig Länder übertragen, und in allen Sprachen erfolgte für die Gläubigen der Ablass. Über das mächtige Medium Fernsehen vergab der greise, restlos geschwächte Papst die Sünden der Welt! Welch großartige Demonstration einer globalen Katharsis! Die katholische Kirche hat damit bewiesen, dass ihre gigantischen, altertümlichen Rituale nach wie vor up to date sind. Der Petersdom präsentierte ein kultisches Gleichnis, das die deutschen Bischöfe in ihren radikal formulierten Aufrufen ergänzten.

Damit war das moderne Christentum, zu dem man vermutlich auch den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zählen muss, der Bundesregierung dramaturgisch weit überlegen. Falls Edmund Stoiber mit "Gottes Segen" Kanzler werden will, hat er zu Neujahr im Bayerischen Fernsehen jedenfalls schon Wahlkampf gemacht. Wie bemüht wirkte dagegen unser Kanzler! Schröders Silvesteransprache hatte die Überzeugungskraft eines Werbespots. Der Bundespräsident schnitt zu Weihnachten kaum besser ab, obwohl er es zweifellos besonders ehrlich meinte. Johannes Rau wäre schon eine wunderbar glaubhafte moralische Instanz. Bloß - leider spricht er viel zu verhalten. Und schade, dass er immer nur Eichendorff zitiert und niemals Heinrich Heine.

Uta-Maria Heim

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