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Immer in Gefahr, immer füreinander da. Anne Frank (Mala Emde) und ihr geliebter Vater Otto (Götz Schubert). Foto: HR/AVE/Janett Kartelmeyer.

© HR/AVE/Janett Kartelmeyer

Film "Meine Tochter Anne Frank": Marmorfrei

Der Film „Meine Tochter Anne Frank“ ist ein Triumph eindringlicher Fernseh-Bescheidenheit. Faktensicher und zärtlich zugleich entsteht ein filmisches Denkmal für ein unsterbliches Leben. Am heutigen Mittwoch läuft er im Ersten.

Am Ende sind die Bilder dieses Films mit ihrer Liebenswürdigkeit allein. Sie wollen Anne Frank nicht hergeben. Sie zeigen Regen im Wald, einen vom Sturm geschüttelten Baum, die lachende Heldin traumverloren durch die Natur springend. Anfang und schreckliches Ende lassen sich nicht reimen. Aber Trennung muss sein: Die Assoziationskette der Schlussbilder enthält auch Originalaufnahmen von Häftlingsleichen, die in ein Massengrab geworfen werden. Es gibt nichts mehr szenisch zu erzählen, die Arbeitsgrundlage ist entfallen, kein Blick in ein Tagebuch mehr möglich.

Jüdische Schulfreundinnen, die wie Anne als „potenziell wiederherstellungsfähige“" Arbeitssklavinnen in einem anderem Lagerteil untergebracht waren, erzählen vor der Kamera von einem letzten Kontakt: Wie ihnen im Januar 1945 im KZ Bergen-Belsen eine vor Kälte zitternde Anne Frank über ein Gitter hinweg „hallo“ sagt. Anne berichtet, dass sie und ihre drei Jahre ältere Schwester Margot in Auschwitz von den Eltern getrennt wurden und sie seitdem nichts mehr von ihnen gehört haben. Wegen Läusebefalls ist die abgemagerte Anne mit einem Tuch bekleidet.

Im März bricht in Bergen-Belsen eine Fleckfieber-Epidemie aus. Margot, so soll es gewesen sein, fiel tödlich geschwächt von der Pritsche, einige Tage später starb auch Anne. Genaueres weiß man nicht. Die Buchhalter des Todes kamen mit den Umständen des Massensterbens nicht mehr mit. Als die Engländer das Lager befreien, gibt es keine Anne Frank mehr. Grausam ist dieser einsame Tod, grausam das Verstummen einer 15-Jährigen, deren großes Ziel es war, mit uns, der Nachwelt, über ihr Leben zu reden. Die nicht mehr erfahren konnte, dass ihr geliebtes Tagebuch von den Judenjägern bei der Entdeckung im Amsterdamer Versteck achtlos zu Boden geworfen, aber von den Getreuen der Familie Frank hinterher aufgesammelt worden war. Hätte sie das trösten können?

Die Größe ihres Zeugnisses, das zum ergreifenden Testament und in 70 Sprachen übersetzt wurde, besteht in seiner Wachheit, die das untergetauchte Mädchen den Gefühlen der Machtlosigkeit abrang. Das Tagebuch wirkt wie eine Liveschaltung in das Jungsein im Zeitalter der Judenverfolgung. Es berichtete von den Nöten des Erwachsenwerdens und von der Sehnsucht, eine durch Angst verschärfte paternalistische Familienstruktur mit liebevollem Witz aufzubrechen, ein doppelter Traum von Freiheit.

Lust an der Kunst des Beobachtens

Anne Frank hat Liebe mit Ironie verbunden. Sie flieht, wenn sie die humorlose Brutalität ihrer Epoche schon nicht ändern kann, in die Virtualität und spielt mutige pubertäre Spiele mit der Erfindung von Figuren. Sie lässt sich nicht die Lust an der Kunst des Beobachtens nehmen. Sie chattet lange vor der Erfindung des Computers mit sich und macht ihr Tagebuch zur witzig-verzweifelten Bühne von imaginären Selbstentwürfen.

Die Fernsehgötter wissen vielleicht, warum es so lange gedauert hat, bis „Meine Tochter Anne Frank“, die erste deutsche TV-Verfilmung, dieses großartige, gültige, zärtliche, marmorfreie, schlanke Fernsehdenkmal, entstehen konnte. Muss immer erst die Zahlenidiotie des Jubiläumswesens – Auschwitz wurde 70 – gebieten, damit der Fernsehapparat spurt? Oder sind es Schatten des Schulbetriebs mit dem Tagebuch als Pflichtlektüre im Deutschunterricht, die die Neugier verdunkelt haben könnten?

Nicht auszuschließen, dass es viel zu lange Fernwirkungen jener in den 50er Jahren beginnenden Kampagne der Unverbesserlichen gegeben hat, die die Tagebücher für gefälscht halten, bloß weil der Vater Otto Frank fünf Seiten über Annes Sexualität und die Ablehnung der Mutter zunächst wegzensiert hatte. Bei Wikipedia ist ein glasklarer Beitrag zu lesen, der den langen Weg zur vollständigen Aufklärung aller Verdächtigungen schildert. Die Tagebücher sind echt.

Durch alle Floskeln der Trauer hindurch

Und nun steht sie da. 86 wäre sie heute und wenn man sie in diesem großen Film sieht, könnte man glauben, es gäbe so etwas wie eine Art Auferstehung von den Ermordeten, eine Unsterblichkeit von Jugend und Liebenswürdigkeit, einen Sieg über den Hass, eine Unmittelbarkeit durch alle Floskeln der Trauer hindurch.

Regisseur Raymond Ley („Die Kinder von Blankenese“, „Eichmanns Ende“), der mit seiner Frau Hannah das Drehbuch schrieb, hat darauf verzichtet, irgendeine Deutungsmacht auszuüben. Er liest mit den Zuschauern im überlieferten Text. Er beobachtet eine Beobachterin, aber er sitzt nicht auf dem Thron des tragischen Endes. Er hofft mit den Hoffnungen der Akteure, er spottet mit, er liebt und leidet mit, er weiß es nie besser. Er macht das Versteck auf und entdeckt das Leben, das für die meisten bald zu Ende sein wird.

Bedingungslos setzt die Tagebuchverfilmung auf die Schauspieler und siegt. Götz Schubert als Vater Otto Frank und die Sensation Mala Emde als Tochter Anne lassen den Zuschauer an einer Gefühlsarbeit teilnehmen, die verhindert, dass die Verfolgten in einen Zivilisationsabgrund stürzen. Beide Schauspieler drücken mit jeder Geste den Kampf um die Bewahrung einer Sittlichkeit in einer entsetzlichen Welt aus.

Die erzwungene Zimmerschlacht im Versteck ist nämlich hart. Nicht nur, dass Anne jede Annäherung an die Mutter (Bettina Scheuritzel) ablehnt und den Vater liebt. Die Franks nehmen weitere Verfolgte auf, das Ehepaar van Preis (Hannah Schröder, André Hennicke) mit dem Sohn Peter (Lion Wascyzk) in Annes Alter, später den Zahnarzt Fritz Pfeffer (Harald Schrott), der sich mit Anne ein Zimmer teilt und ihren Schreibtisch usurpiert, weil er dort Portugiesisch lernen will und Annes Tagebucharbeit machohaft für Backfischkram hält.

Liebe zum „besonderen Fräulein Anne“

Götz Schubert gelingt in der Rolle des ständigen Harmoniestifters eine schauspielerische Meisterleistung. Er dämpft mit ruhiger Sachlichkeit die Streitereien über Erziehung, er wird zum väterlichen Oberhaupt der Versteckten, er signalisiert hinter strengen Ermahnungen seine Liebe zum „besonderen Fräulein Anne“.

Das Fräulein wird zum weiblichen Herzen der Gruppe. Es ist zuständig für alles, was außer der täglichen Not zum Leben gehört. Mala Emde drängt sich nicht in die Rolle der Seelenpflegerin. Sie wächst hinein und entdeckt - auch nach einem Aufruf eines aus dem Exil im Londoner Rundfunk sprechenden holländischen Politikers, die Erinnerungen an die Nazibesatzung für später aufzubewahren - die historische Bedeutung ihres Tagebuchtextes, den sie später zu einem Roman ausbauen will. Es fällt einem ein: Texte sind im Judentum verehrungswürdig, auch bei den Franks, die eigentlich wenig religiös sind

Das Versteck der Franks wurde bekanntlich verraten. Eine bis heute ungeklärte Schandtat. Der Film handelt in einigen Szenen davon und beschäftigt sich auch mit dem herzlosen SS-Mann Karl Silberbauer (Felix Römer), der die Häscher bei der Verhaftungsaktion anführte. Ein Journalist (Axel Milberg) vernimmt ihn in Wien und ist fassungslos über seine Dumpfheit.

Aber die Szenen mit den Bösen sollen sich in diesem Film nicht zu sehr ausbreiten. Die Opfer sollen herrschen: die Momente der seltenen Ausgelassenheit, als man in der Prinsengracht 263 vom D-Day erfährt, als man den Lesungen des stolzen Vaters mit witzigen Passagen aus dem Tagebuch lauscht, als Peter und Anne die Erotik entdecken und sich gelassen ein wenig Freiheit gegenüber den moralischen Bedenken der Erwachsenen nehmen.

Sicher ist, dass dieses TV-Stück im Rahmen der Beschäftigung mit Auschwitz – im Kino wird ein von der Fernsehproduktion unabhängig entstehender Film Ende des Jahres zu sehen sein – einen Höhepunkt, wenn nicht den Höhepunkt darstellt. Es wartet noch im April die ARD-Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“, eine Männerpassion der geschundenen Körper, eine Heldengeschichte über ein nach Buchenwald geschmuggeltes Kind.

Außer Vater Frank, der 1980 starb, sind alle versteckten Bewohner aus dem Hinterhaus im KZ ermordet worden. Dass sie jetzt leben, ist ein Wunder.

„Meine Tochter Anne Frank“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15

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