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Medien: Fragwürdige Märtyrerin

Judith Miller stürzt „New York Times“ in die Krise

Aus dem Heldendrama ist ein Schmierentheater geworden. Und die ehrwürdige „New York Times“, die vielen als Denkmal des seriösen Journalismus gilt, stürzt zum zweiten Mal binnen kurzem in eine Krise. Im Mai 2003 hatte die Zeitung nach längerer interner Prüfung bekannt, ihr Reporter Jayson Blair habe eine Vielzahl aufsehenerregender Berichte erfunden und seinen Vorgesetzten sei dies nicht aufgefallen. Genau damals entwickelte sich der jüngste Skandal um die Pulitzerpreisträgerin Judith Miller.

Vor wenigen Wochen spielte sie noch die Märtyrerin, die 85 Tage Gefängnis auf sich nimmt, um den Informantenschutz zu verteidigen. Inzwischen ist offenkundig, dass sie hohe Freunde im Weißen Haus deckte mit ihrer Weigerung, vor der Kommission auszusagen, die „Leak-Gate“ untersucht: die Enttarnung der CIA-Mitarbeiterin Valerie Plame im Juli 2003. Die war offenbar ein Racheakt des Weißen Hauses. Plames Ehemann, Botschafter Joseph Wilson, hatte einen der angeblichen Gründe für den Irakkrieg widerlegt: die Behauptung, Saddam habe versucht, in Niger Waffenuran zu kaufen. Miller gehörte 2002 zu den journalistischen Kronzeugen für Iraks angebliche Massenvernichtungswaffen. Ihre Hauptquelle war Lewis Libby, Stabschef von Vizepräsident Dick Cheney. Im Juni und Juli 2003 hatte sie wieder mit Libby gesprochen, dabei kam auch die Sprache auf Plame und Wilson.

In mutiger und schonungsloser Offenheit gewährte die „Times“ in ihrer Sonntagsausgabe über drei Seiten Einblick in die Verwicklung Miller in „Leak-Gate“, in die Grabenkämpfe in der Redaktion und die fast unlösbar widersprüchliche Doppelaufgabe des Managements, der umstrittenen Diva juristischen Schutz zu gewähren, ohne dass die Berichterstattung über den Politskandal zu sehr unter der selbst auferlegten Zurückhaltung litt.

Die Flucht nach vorn hat dem Blatt zunächst wenig genützt. Wer Rang und Namen hat unter Amerikas Journalismus-Päpsten, nutzt die von der „Times“ ausgebreiteten Details jetzt nur als weitere Munition. Wie konnte es passieren, dass Miller auf eigene Faust weiter in Sachen Irakwaffen recherchierte, obwohl die Führung ihr das nach den Fehlleistungen zuvor untersagt hatte und allenfalls interessiert war, dass sie aufklärte, wie es zu ihren falschen Berichten hatte kommen können? Wieso überließen es Herausgeber und Chefredaktion ihrer Reporterin, selbst die Verteidigungsstrategie zu wählen? Die sagen zwar: Weil Miller die Folgen auszubaden hatte. Aber sie müssen auch zugeben, dass sie viele peinliche Details der Kooperation Millers mit Libby erst jüngst erfahren haben.

Mit Millers Reputation ist es vorbei, die Karriere der 58-Jährigen dürfte zu Ende sein, jedenfalls bei der „New York Times“, die sie bis auf weiteres beurlaubt hat. Aber auch die Redaktionsführung hat ihre Erfolge beim versprochenen Neuanfang nach der Jayson-Blair-Krise wieder zunichte gemacht – und zudem Millionen Dollar für Millers Anwälte verpulvert. Zu wenig Kontrolle, zu viel Laisser- faire, heißt es jetzt. In der Redaktion brodelt es. Einige verletzende Zitate sind gefallen, und interne Konflikte zwischen Abteilungen publik gemacht geworden.

Schonungslose Aufklärung von Missständen ist zwar ein journalistischer Auftrag. Für die „Times“-Angehörigen aber ist es schmerzlich, nun selbst Gegenstand skandalträchtiger Schlagzeilen zu sein – und vorerst kein Trost, dass sie bei der Selbstkritik mit gutem Beispiel vorangehen und zudem der Gastkommentar, in dem Botschafter Wilson der Bush-Regierung Manipulationen bei der Begründung des Irakkriegs vorwarf, in ihrem Blatt erschien. Falls Staatsanwalt Fitzgerald nun Anklage gegen Libby und Bushs Berater Karl Rove erhebt, dürfte es der „New York Times“ an der üblichen Angriffslust fehlen. Sie fühlt sich befangen.

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