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Medien: Frau in der Revolte

Eine junge Aussteigerin, eine Verdrängung und die Entdeckung eines Films: „Treibgut“ von Paula Delsol

Wiederzusehen ist ein Film, der vor vierzig Jahren Opfer einer Politik des Verdrängens gewesen ist. Gewiss, 1964, als „La dérive“ („Treibgut“) in den Pariser Kinos uraufgeführt wurde, war die hohe Zeit der Nouvelle Vague bereits vorüber, hatten die einschlägigen Spielfilme der Pariser Cineasten, ob von Truffaut, von Godard oder von Rohmer, bereits Kinogeschichte geschrieben. Aber dass der Erstling von Paula Delsol in der Filmliteratur unerwähnt blieb und erst über den Umweg eines „Festivals des verfemten Films“ (Paris 2001) und dann einer Berlinale-Reihe (European 60s von 2002) seinen Zugang zu den Sendeanstalten gefunden hat, ist bezeichnend.

Dabei hatte schon vor langer Zeit einmal das deutsche Fernsehen den Film entdeckt. Er wurde 1971 vom Sender in Adlershof ausgestrahlt. Allerdings blieb damals, in der DDR, die sentimentale Geschichte eines hedonistischen Lebensentwurfs aus dem französischen Süden nicht ganz ungeschoren: Die letzten Minuten des Films wurden zensiert, das happy ending wurde verwehrt, und die Zuschauer sollten wohl den Eindruck gewinnen, sie sähen das Schicksal einer jungen Frau, die nach ihren Abwegen von den gesellschaftlichen Normen allein gelassen wird, verzweifelt ist und dem Suizid nahe steht.

Nichts hatte der Regisseurin ferner gelegen, und um so verdienter ist die jetzige Ausstrahlung der integralen Fassung. 1923 im Languedoc geboren, in Hanoi aufgewachsen und heute in Sèvres bei Paris lebend, erzählt Paula Delsol von den Anfechtungen, denen ihr Film auch ausgesetzt war. „Mir ging es nicht darum, Partei für die sexuelle Freiheit zu ergreifen. Ich wollte jemanden porträtieren, der schwach oder auch leichtfertig ist, der sich von seinem Gefühl leiten lässt.“

Dass ihr die katholische Zeitung „La Croix“ damals Schändlichkeit vorwarf, habe am allermeisten sie selbst überrascht. „Natürlich ist da ihre Revolte.“ Plutôt crever, stößt es immer wieder aus dem Mund von Jacqueline Vandal, der nahezu pittoresk spielenden Hauptdarstellerin des Films, „lieber krepieren“ als zurück zur Familie, als eine Ehe oder gar einträgliche Liebeshändel einzugehen. Aber das sei auch nicht feministisch zu verstehen.

Gelernt hatte Paula Delsol als Regieassistentin der frühen Kurzfilme von Truffaut in den fünfziger Jahren. Derselbe Verzicht auf Studiokulisse, dieselbe Vorliebe für Tageslicht, auch die finanziell dürftige Ausstattung kennzeichnen noch „La dérive“. Doch was bald Delsols Vorstellung vom Filmen radikal umgestürzt hatte, war die Arbeit von Godard. Nicht so sehr die Tendenz zum Intellektuellen, zum Zentralistisch-Urbanen, sondern der Sinn für Montage, die Fähigkeit, alles zu überspringen, was schwerfällig war. Deshalb hatte sie für ihren Film auch Agnès Guillemot, Godards Cutterin, übernommen.

In Paris war ihr Film dennoch nicht willkommen. Drei Gründe gibt Paula Delsol rückblickend an: „Ich galt nicht als Filmemacherin, sondern als Schriftstellerin, zuvor hatte ich zwei Romane veröffentlicht. Ich filmte nicht in der Hauptstadt, sondern in der Provinz. Und ich war eine Frau.“

Am spitzfindigsten liest sich dies in der damals tonangebenden Filmzeitschrift, den „Cahiers du Cinéma“. Dort wurde „Treibgut“ zum film féminin deklariert: Die Regisseurin Paula Delsol habe sich hingegeben, und alles sei, als habe ein anderer für sie gedacht. Und dieser andere, mit immer männlichem Artikel, sei LE cinéma.

„Treibgut“, Mittwoch, 26. Januar, Arte, 23 Uhr

Henrik Feindt

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