zum Hauptinhalt

Fremde Freunde: Werbebranche testet einen neuen Look

Vom Marlboro-Cowboy zum Congstar-Andy: Neue, authentische Typen sollen Werbung näher an die Menschen bringen. Das funktioniert nicht immer.

Wir kennen ihn kaum, trotzdem sagt er uns immer die Wahrheit. Der Mann hat zerzaustes Haar und trägt zwei verschiedene Schuhe. Er hatte vergeblich versucht, als Endkontrolleur einer Großbäckerei oder als Seniorenfriseur Geld zu verdienen. Stets war er an seiner eigenen Ehrlichkeit gescheitert. Eines Tages kommt ein Mann in seine Wohnung, schließt ihn an einen Lügendetektor an. Sagt er immer die Wahrheit? Als das Ergebnis verkündet wird, bricht unter den Anwesenden lauter Jubel aus. Seit April steht der „Mann, der immer die Wahrheit sagt“, im Zentrum einer großen Werbekampagne des Mobilfunkanbieters Fonic. Der Netzbetreiber will sich als transparentes und glaubwürdiges Unternehmen positionieren. Dabei soll der junge Mann helfen.

Das hat Methode. Auch andere Unternehmen setzen für ihre Außendarstellung via Medien vermehrt auf authentische Typen. „Wir sehen seit Jahren einen Trend zu mehr Echtheit und Authentizität – das ist ein gesellschaftliches Phänomen“, sagt Nina Rieke von der Berliner Kreativagentur DDB Tribal. Da scheint gesellschaftlich etwas in der Luft zu liegen. Als vor drei Wochen in Nordrhein-Westfalen fast 40 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme der SPD gaben, bedankte sich Hannelore Kraft – für stets gebügelte Hemden – bei ihrer Mutter. So etwas kommt an. Umfragen zufolge liegt Kraft auf der Beliebtheitsskala inzwischen deutlich vor Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die größten Werbelügen:

Echtheit verkauft sich gut. Das weiß auch Matthias von Bechtolsheim, Leiter der Berliner Werbeagentur Heimat. „Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit erleben eine Renaissance“, sagt von Bechtolsheim. Seine Agentur konzipierte neben dem „Mann, der immer die Wahrheit sagt“ jüngst die Kampagne „Was uns antreibt“ für den Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken. Deren Markenbotschafter ist seit März Jürgen Klopp. In einem Spot spricht der Trainer des deutschen Fußballmeisters Borussia Dortmund über das, was ihn antreibt. Auffallend ist: es wird eine Person und kein konkretes Produkt beworben.

Ähnlich verhält es sich mit der Kampagne „Versichern heißt Verstehen“ der Ergo Versicherungen. Sie wurde 2010 initiiert, knapp ein Jahr vor dem Sexreisen-Skandal. In einem der Werbeclips ist ein junger Mann zu sehen. Er steht auf der Elsenbrücke im Osten Berlins. Er hat eine Frage, die stellt er in verschiedenen Variationen immer wieder: „Warum versteht mich meine Versicherung nicht?“ Der Mann sollte stellvertretend für alle Kunden den Versicherern kritische Fragen stellen, Ergo wollte sich damit als selbstkritisches Unternehmen verstanden wissen.

Es gibt kein Entkommen: Überdimensionierte Werbung in Berlin:

Auch Andy mimt die Rolle des Verbrauchers. Im Comic-Look macht er seit zwei Jahren Werbung für die Telekom-Tochter Congstar. Der junge Mann, der sich in gar keinem Fall festlegen möchte, wechselt in über zehn Werbespots sein Outfit. Die Botschaft: „Ändere dein Leben, ändere deinen Provider“. Dieser neue Typus, egal, ob er für Fonic, die Volks- und Raiffeisenbanken, Ergo oder Congstar in Erscheinung tritt, hat Ecken und Kanten und nur wenig mit den bisher in der Werbung vorherrschenden Typen gemeinsam. Diese authentischen Figuren entwickelten sich aus Vorläufern wie etwa dem Marlboro-Cowboy oder dem Melitta-Mann.

"Die Menschen suchen Halt und Orientierung" - das nutzt die Werbebranche aus.

Jürgen Klopp
Jürgen Klopp

© Heimat/DDB Tribal

Im Gegensatz zu diesen lebt die moderne Werbefigur fest auf dem Boden der Realität. Für die Werbeindustrie kommt eine weitere Herausforderung hinzu: die Reizüberflutung der Zuschauer. So sagt Hubertus von Lobenstein, Managing Director der Agentur Aimaq von Lobenstein, dass man „früher wesentlich besser mit Klischeetypen arbeiten konnte.“ Heute hingegen müsse man „genauer in die Bedürfnisse und Lebenswelten der Zielgruppen einsteigen.“

So spaziert der junge Mann in der Ergo-Werbung durch Berlin-Kreuzberg. Jürgen Klopp geht mit Hund durch einen nebelverhangenen Wald.

„Die Menschen suchen in dieser von Unsicherheit geprägten Zeit Halt und Orientierung“, sagt Matthias von Bechtolsheim. Der Zuschauer soll den Figuren intuitiv vertrauen können. Das sei doch ein Widerspruch in sich, sagt dagegen der Tübinger Universitätsprofessor Guido Zurstiege: „Diese Figuren stellen eigentlich den kommunikativen Rahmen – Werbung – infrage. Wer wirbt, verfolgt Interessen, dabei legt er in aller Regel seine Strategie nicht immer voll offen.“

Es ist wohl das klassische Paradoxon. Kann man einem Mann glauben, der von sich selbst sagt, dass er ein Lügner ist? Jürgen Klopp nimmt man fast alles ab, wenn er mit strahlenden Augen erzählt, wie er das erste Mal mit dem Fußballspiel in Berührung kam. Doch kann man den Ergo-Gesichtern genauso ihre Empörung über das Geschäftsgebaren der Versicherungskonzerne abnehmen?

„Es ist eine urtümliche Hoffnung des Werbenden, zu zeigen: man ist authentisch und wahrhaftig, man meint es ernst und steht zu seinem Wort.“ Diese von Guido Zurstiege beschriebene Hoffnung hat am Start einer Kampagne meist noch Bestand, bis dann die zweite Spot-Welle folgt. Dann stehen nicht mehr Personen, sondern die Produkte im Vordergrund. Bei der Ergo-Versicherung folgte die zweite Werbephase zudem in der Zeit, nach dem der Sexreisen-Skandal in Budapest bekannt geworden war. Beworben wurden – mit ungewissem Erfolg – nun zwei Produkte, die Verstehensgarantie und der „Kundenanwalt“.

Eine Regel lässt sich daraus allerdings nicht ableiten. Fonic zum Beispiel ist ein ganz anderer Fall. Hier ging es auch im zweiten Teil der Werbekampagne nicht um eine strategische Neuausrichtung. Das Ziel hieß unverändert: Neukunden gewinnen. So ist der „Mann, der immer die Wahrheit sagt“ weiterhin zu sehen, auch wenn er nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Dafür erzählt der Sprecher aus dem Off von den Bedürfnissen der Mobilfunkkunden und den Qualitäten der neuen Fonic-Flatrate. Beide stimmen – und das ist keine Überraschung – überein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false