zum Hauptinhalt
Public Viewing

© ddp

Fußball-EM: Wo guckst du?

Am gemeinschaftlichen Erleben von Großveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen, Straßen oder Stadien führt seit 2006 kein Weg mehr vorbei. Oder doch? Wohnzimmer oder Biergarten - das ist die Frage.

Wo geht’s denn hier zum Public Viewing? In den USA stellt man diese Frage besser nicht. Dort bezeichnet „Public Viewing“ die öffentliche Aufbahrung eines Verstorbenen. Hierzulande steht der Begriff seit der Fußball-WM 2006 für das krasse Gegenteil. Man muss sich nur noch mal die Stimmung auf der Fanmeile am Brandenburger Tor vergegenwärtigen, zum Beispiel in Sönke Wortmanns Film „Deutschland – ein Sommermärchen“. WM-Euphorie gleich Public Viewing – am gemeinschaftlichen Erleben von Großveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen, Straßen oder Stadien führt seit 2006 kein Weg mehr vorbei.

Oder etwa doch? Von der Schönwetterfrage mal abgesehen – das ganz große Public-Viewing-Gefühl wird es bei der am kommenden Sonnabend startenden Fußball-EM allem Anschein nach nicht geben. Viele deutsche Metropolen verzichten auf Übertragungen auf öffentlichen Plätzen (siehe rechts), anders als bei der WM 2006, als die Rechtefirma Infront zusammen mit der Fifa in zwölf Städten Fanfeste mit Großbildleinwänden veranstaltet hat. Hauptgrund war die zu geringe Anzahl an Eintrittskarten. In Berlin fanden – kostenfrei – Liveübertragungen im Sony-Center, in der Waldbühne und in der neu errichteten Adidas-Arena statt. In der Frankfurter Main-Arena wurden die Spiele auf einer 9 x 16 Meter großen Leinwand, die mitten im Main auf 22 Meter langen Hydraulikstelzen installiert wurde, übertragen. So konnten beide Mainufer als Public-Viewing-Flächen genutzt werden. Diese künstliche Insel wog alleine schon ohne die Bildschirme 160 Tonnen.

Bis zu 16 Millionen Deutsche haben einzelne WM-Spiele nicht vorm eigenen Bildschirm verfolgt – dabei sind die WM-Touristen aus anderen Ländern gar nicht berücksichtigt. „Viele Ausländer sind eigens zum Public Viewing angereist, weil sie von der phänomenalen Stimmung gehört hatten“, erinnert sich Stephan Herth von Infront. Die Bilder von Ballack & Co. waren die gleichen wie in Millionen deutschen Haushalten, doch Public Viewing hat den Menschen ein anderes Turnier beschert. Die Art des hautnahen Mitverfolgens – Beispiel Adidas-Arena vorm Reichstag – war beinahe mit der Atmosphäre identisch, wie sie die Zuschauer bislang nur in den richtigen Fußballstadien vor Ort erleben konnten. Und was heißt schon beinahe: Irgendwann soll es keinen Unterschied mehr geben zwischen Olympiastadion und Adidas-Arena, 3-D-Fernsehen in Kombination mit HDTV wird noch mehr Stadionatmosphäre transportieren. 3-D-TV wurde bereits im Rahmen der Eishockey-WM getestet. „Die Reaktionen“, so der Infront-Mann, „waren überwältigend, die Zuschauer fühlen sich fast so, als wären sie live vor Ort in der Fankurve.“

Für das Phänomen Public Viewing hat der Kulturjournalist Florian Rötzer das Wort von der „medialen Massage“ geprägt. Fernsehen war lange Zeit verbannt in Räume. Wegen der kleinen Bildschirme war die Menge der Zuschauer beschränkt. Die Teilnahme an der Welt war so beschränkt auf zurückgezogene Höhlenbewohner wie in McLuhans Bild vom globalen Dorf, das durch die elektronischen Medien wieder entsteht. Mit den Großleinwänden hat sich die Situation grundlegend verändert, so Rötzer. „Das Fernsehen bringt nicht mehr die Welt in abgeschlossene Räume, es wandert aus auf die öffentlichen Plätze der Städte.“

Den Unterschied zwischen Höhlenbewohner und erregter Masse, zwischen privatem Fernsehen und Public Viewing machen bei dieser EM wenige Zentimeter aus. Wenn die Größe des Bildschirms die Diagonale von drei Metern übersteigt, kostet Public Viewing nämlich Geld. Dann sind Lizenzen der Uefa erforderlich, pro Spiel und Quadratmeter der Leinwand sechs Euro zu zahlen. Wenn es keinen kommerziellen Anlass gibt (in Form von Eintrittgeldern, Sponsoring etc.), wird die Lizenz gratis erteilt. Die Vergabe erfolgt via Internet auf der Uefa-Homepage.

Bislang sind 1000 Lizenzen beantragt worden, etwa so viel wie 2006. Den WM-Verve werde Public Viewing bei der EM trotzdem nicht haben, glaubt Medienexperte Jo Groebel: „Dafür hat das deutsche Team auch zu wenig Symbolfunktion.“ Trotzdem dürfte – ohne offizielle Fanfeste – für jeden Gemeinschaftsgucker etwas dabei sein: bei den „11 Freunden“ an der Berliner Puschkinallee, im Münchner Biergarten oder beim Sportverein in der Nachbarschaft. Und das alles, mit Ausnahmegenehmigung, auch nach 22 Uhr. Leidtragende? Vermutlich wieder die Anwohner – und ein bisschen ARD/ZDF. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat für 27 EM-Spiele rund 115 Millionen Euro bezahlt (die restlichen vier Partien werden zeitversetzt gezeigt). Diese Summe sollte mit so viel Werbereichweite, sprich Quote wie möglich zumindest teilweise refinanziert werden. Public Viewing führt in der offiziellen Fernsehforschung zum einen oder anderen Marktanteil weniger.

Wer im Biergarten guckt, wird nicht mitgezählt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false