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© dpa

Fußball-WM: Jogi-Cam, Özil bei Facebook, Lippen lesen bei Neuer

Noch nie waren Fußballer und Trainer so sehr unter medialer Dauerbeobachtung wie bei der WM 2014. Aber sie wehren und gestalten ihr Bild in der Öffentlichkeit mit..

Dieser Kamera entgeht keine Geste, kein Blick, kein Zuruf aufs Feld, sie ist ganz allein auf die Trainerbank gerichtet: Die „Jogi-Cam“. 90 Minuten lang zeigt sie Löw bei der Arbeit – und damit eine ganz besondere Perspektive aufs Spiel. Zum ersten Mal in der Geschichte einer Fußball-WM ist eine solche Kameraeinstellung für die Zuschauer abrufbar, jeweils zu sehen über die Apps von ARD und ZDF während der Live-Übertragungen.

Sechs verschiedene Perspektiven können die Zuschauer hier wählen, auch die auf die gegnerische Trainerbank oder die wichtigsten Spieler der Mannschaften wie Thomas Müller, die während der Partie ebenfalls durchgehend gefilmt werden. Insgesamt sind bis zu 34 Kameras pro Spiel im Einsatz, so viele, wie nie zuvor bei einem solchen Fußballereignis. Für die Zuschauer ermöglicht das eine ganz neue Form der Nähe. Für Spieler und Trainer bedeuten diese technischen Neuerungen jedoch eine neue Form der Dauerbeobachtung – eine Form, der sie zu trotzen versuchen.

Beispielsweise am Montagabend. Als Manuel Neuer nach dem 2:1-Sieg gegen Algerien mit Bastian Schweinsteiger vom Platz ging, hielt er sich beim Sprechen die Hand vor den Mund. Niemand sollte von seinen Lippen ablesen können, was er sagt. Eine Geste, die auch bei Taktikbesprechungen am Spielfeldrand oder vorm Elfmeter immer wieder zu sehen ist. Eine Reaktion darauf, dass professionelle Lippenleser wie in Italien und Spanien für Sender und Zeitungen arbeiten. In Deutschland bietet die gehörlose Bloggerin Julia Probst auf Twitter einen solchen Ableseservice an, inzwischen hat sie mehr als 27 000 Follower.

Sicher, für Spieler und Trainer ist es nicht neu, dass sie Personen des öffentlichen Interesses sind und während des Spiels unter Dauerbeobachtung stehen. Was die Vielzahl der Kameras aber verändert hat, ist zum einen die Masse an Bildern, die zur Verfügung stehen. Dazu bekommt der Zuschauer mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Während bei einer Fernsehübertragung der Regisseur des Senders entscheidet, welches Bild von welcher Szene wann wie zu sehen ist, wird der Zuschauer über die Apps sein eigener Regisseur – und schaut beispielsweise 90 Minuten lang die „Jogi-Cam“.

Mehr Emotionen erleben

„Durch solche Technologien kommen wir dem Spiel immer näher“, sagt Christoph Bertling, Kommunikationswissenschaftler an der Kölner Sporthochschule. „Für den Zuschauer bedeutet dies, mehr Emotionen zu erleben. Für die Beobachteten bedeutet dies auch mehr Stress.“ Das gehöre zum Spieler- und Trainerberuf allerdings auch dazu. „Ohne Öffentlichkeit funktioniert Sport nicht, vor allem nicht auf diesem Level. Deshalb müssen Akteure auch mit Öffentlichkeit umgehen können, beziehungsweise sollten sie dies lernen“, betont Bertling.

Dass nicht alle Spieler einen solchen Umgang mit den Medien beherrschen, hat nach dem Spiel gegen Algerien auch die Reaktion von Per Mertesacker gezeigt. „Was wollen Sie von mir?“, zickte er ZDF-Reporter Boris Büchler an, der kritische Fragen zur Mannschaftsleistung gestellt hatte. Ein emotionaler Ausbruch, der womöglich dem Druck unter Dauerbeobachtung zuzuschreiben ist. Der vor allem aber zeigt, dass es Spieler offensichtlich irritierend finden können, wenn Reporter mit ihnen nicht auf Kuschelkurs gehen.

Welches Bild sich die Öffentlichkeit von den Spielern macht, wollen diese nicht allein den Medien überlassen, sondern aktiv mitgestalten. Die sozialen Medien drängen sich geradezu auf. Mit Facebook & Co. werden Verbände und Vereine, Trainer und Spieler selber zu Nachrichtenproduzenten. Zwar wird der gesamte Informationsfluss nicht umgekehrt, aber mit den sozialen Netzwerken ist dem Profifußball ein eigener, wichtiger Quellcode zugewachsen.

Agenturen wie die RE Sport Consulting GmbH stehen bereit. Roland Eitel, früher Sportjournalist bei der „Stuttgarter Zeitung“ und seit 1989 selbstständiger Medienberater, arbeitet für Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Mesut Özil. Der populärste deutsche Fußballer erreicht über die sozialen Netzwerke weltweit 30 Millionen Menschen in fünf Sprachen, allein 20 Millionen via Facebook. Ideal für die angestrebte Nähe, ideal für die gewünschte Distanz: Özil (und die Agentur) teilen sich mit, sie produzieren Nachrichten, sie haben – so weit möglich – das Mesut-Özil-Idealbild in der eigenen Hand. Und selbstredend die Werbemärkte im Blick, wenn der Fußballer wieder ein Foto vom vermeintlich besten Schuh postet.

Das ist Alltag, eine WM eine ganz andere Situation. „Bei einem Turnier ist es das Wichtigste, die Innensicht von Spielern und Trainern mit der Außensicht zu kombinieren“, sagt Eitel. Sie seien während eines Turniers sehr fokussiert auf den Sport, und deshalb sei es sinnvoll, diese Lücke zu schließen. Sind Interviews nach dem Abpfiff die medial schwierigste Situation für einen Spieler? „Wahrscheinlich schon“, sagt der Medienberater. „Der Spieler wird mit einer Gesamteinschätzung konfrontiert, die er nicht leisten kann.“ Er sei so konzentriert während des Spiels, dass er nur seinen Bereich sehe. Treffe er auf einen Journalisten, der die Partie in Ruhe verfolgt habe, vielleicht eine andere Grundeinstellung zur Nationalmannschaft habe, würden Welten aufeinanderprallen. Soll der Spieler wirklich seine eigene Meinung sagen, – und nicht die der Medien, respektive der Öffentlichkeit? „Wir neigen derzeit dazu, Spieler mit Aufgaben zu überfrachten, an deren Lösungen wir sie nicht messen sollten“, nimmt Eitel seine Klientel in Schutz. Thomas Spiegel, Pressesprecher des Fußball-Bundesligisten Schalke 04, sekundiert: „Das ist einer der stressigsten Momente überhaupt. Die Aussagen der Spieler werden so kritisch analysiert wie sonst nur Regierungserklärungen.“

Roland Eitel legt nach: „Was sind unsere Ansprüche an einen Fußballspieler? Wenn wir verlieren, wollen wir Typen wie den Italiener Mario Balotelli, wenn wir gewinnen, regen wir uns über Kevin Großkreutz auf.“ Der Spieler von Borussia Dortmund hatte mit Döner geworfen und in einer Hotellobby uriniert. Medienberater Roland Eitel sieht Fußballer wie Großkreutz trotzdem nicht als medial unmöglichen Fall. „Diese Leute sind ja nahezu 24 Stunden unter Beobachtung – da kann man kein falsches Idealbild mehr vermitteln. Und das ist auch gut so.“

„Waffengleichheit“, gibt Schalke-Sprecher Spiegel als Ziel aus. Zwar verzichte sein Klub noch auf gezieltes Medientraining – „wir wollen den Spielern keine auswendig gelernten Sätze beibringen“ – , zugleich sollen sie sich souverän vor Mikrofon und Kamera bewegen können. Tipps und Hinweise müssten da ausreichen. Um bei allem Rollenspiel im Interview eines sein zu können: glaubwürdig.

Fußball-WM: Viertelfinale Frankreich – Deutschland, ARD, 18 Uhr, Brasilien – Kolumbien, ARD, 22 Uhr

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