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Mariel Claytons Konzeptkunst zeigt Barbie von ihrer tödlichen Seite.

© Mariel Clayton

Geschmacksfragen im Web: Das Schockangebot

Killerbarbies, Maden, brechende Knochen – zu Besuch auf den dunklen Seiten des Internets.

Auf boingboing.net haben sie neulich eine Studie zitiert, die auflistet, was man so alles in tiefgekühlten Hot Dogs im Supermarktregal finden kann: Maden, Würmer, Rasierklingen zum Beispiel. Mindsdelight.de kündigt einen Film an, in dem ein gestörter Chirurg zwölf Menschen aneinandernähen und einen humanen Tausendfüßler erschaffen will. Dangerousminds.net stellt einen Künstler vor, der behauptet, er verkaufe Filmfans den Kot von Jennifer Aniston und Leonardo DiCaprio in Einmachgläsern. Der Mann sieht nicht vertrauenswürdig aus. Man kann nicht sicher sein, dass die Exkremente tatsächlich aus Hollywood stammen. Man kann nur sicher sein, dass es Exkremente sind.

Zwei Wahrheiten, die sich jeder eingestehen muss, der nur lange und neugierig genug surft, sich von einem Link zum nächstschlimmeren leiten lässt: Das Internet hat verdammt eklige Ecken – und es gibt Menschen, die genau das an ihm schätzen. Man erkennt es an der offenkundigen Begeisterung, mit der Blogger scheinbar geschmacklose Inhalte einstellen. Und an den zahllosen Besucher-Kommentaren, die gleichzeitig Verstörtheit und Faszination zum Ausdruck bringen. Es gibt einen international gültigen Schlachtruf, mit dem sich Nutzer von Blogs wie boingboing.net (dort allein sind es jeden Monat drei Millionen) ihr Erstaunen, ihr Nicht-Fassen-Können des Präsentierten, gegenseitig versichern: What the fuck! Kurzform WTF. Die drei Buchstaben werden als Gütesiegel verstanden. Was so richtig WTF ist, will keiner verpassen.

Man kann sich von solchen Blogs getrost fernhalten, die dunklen Seiten des Internets ausblenden, diesen Text allerspätestens jetzt beiseite legen. Man kann sich aber auch fragen, worin genau der Reiz besteht, sich Bilder tanzender Skelette oder zweiköpfiger Hunde anzusehen. Und vor allem: was das für Leute sind, die sich dem willentlich aussetzen. Ob die gestört oder gefährlich oder wenigstens ein bisschen soziopathisch sind.

Ken von der Maschinenpistole durchsiebt

Als ziemlich What the fuck! gelten derzeit die Arbeiten der Südafrikanerin Mariel Clayton. Die meisten einschlägigen Blogs haben in den vergangenen Wochen über sie berichtet. Clayton arrangiert, wie auf dieser Seite zu sehen, Barbie-Puppen in ihrem natürlichen Umfeld, in Miniaturzimmern vollgestopft mit Plastikmöbeln und Küchenutensilien, meist ist auch Ken dabei. Die Szenen, die die Künstlerin dann mit ihrer Canon D50 festhält, entsprechen aber so gar nicht der gängigen Vorstellung eines Barbie-Alltags: Mal durchsiebt sie Ken mit der Maschinenpistole, mal schnupft sie Kokain oder nimmt sich in der Badewanne das Leben. Meist fließt Kunstblut, und wenn aus dem Kühlschrank keine abgetrennten Ken-Köpfe ragen, dann wahrscheinlich aus der Waschmaschine. Platt ist das nicht. Wer sich durch Claytons Konzeptkunst klickt, erkennt, wie geistreich und subversiv die Inszenierungen gestaltet sind. Und dass die Protagonistin gut gewählt ist, diese klischeeblonde Idealfrau mit den utopischen Maßen, deren Fassade normbrechendes Verhalten geradezu herausfordert. Schnell wird klar: Wenn es hier Potenzial für Empörung gibt, dann nur über das reaktionäre Rollenbild des Spielzeugherstellers.

Die Zutaten des Gewaltcocktails im Internet gab es schon lange vor dessen Erfindung. Man denke an den Marquis de Sade, Art Brut, William S. Burroughs, Murnaus Nosferatu, die Freakschauen im Zirkus. Neu ist die unmittelbare, jederzeitige Verfügbarkeit. Und dass ein Medium jeden befähigt, selbst produktiv zu sein. Eine kaputte Idee, die früher schnell verworfen wäre, kann jetzt in einem Bild oder Text oder Video verwertet und anderen denkbar leicht zugänglich gemacht werden.

Unter den deutschsprachigen Blogs, die sich der Verbreitung von Abseitig- und Abscheulichkeiten verschrieben haben, gilt die Seite nerdcore.de als oberste Instanz. Wenn etwas nicht auf Nerdcore stattfindet, ist es nicht WTF. 20 000 Besucher wollen dort jeden Tag die Fassung verlieren. Aktuell im Angebot: bunte Totenschädel, die sich mit Kreide bemalen lassen wie eine Schultafel. „Ideales Dings für die Küche“, steht unter dem Bild. Der Mann, der Nerdcore seit bald sieben Jahren betreibt, heißt René Walter und lebt in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Seine Kommandozentrale kann man sich kaum nerdiger vorstellen: auf dem Schreibtisch drei Bildschirme, am Boden eine Armada geleerter Cola-Flaschen, Schwip Schwap auch, daneben Kisten voller Comics. Die Zimmerpflanze hat welke Blätter, bloß das Fitness-Rad passt nicht recht ins Bild.

René Walter sagt, es sei Außenstehenden kaum zu vermitteln, worin der Reiz des Horrors besteht. Wenn er es trotzdem versuche, bekomme er Fragen gestellt wie diese: „René, was meinst du denn jetzt mit Wundästhetik?“

Erst Made, dann Einhorn

René Walter ist 37 und freiberuflicher Webdesigner, er behält ständig 500 Blogs im Auge, um zu entscheiden, was davon würdig für Nerdcore ist. Dabei nimmt drastisches Material nur einen geringen Teil seiner Berichterstattung ein. Denn genau darum gehe es ihm: die ganze Bandbreite menschlichen Handelns aufzuzeigen. Oder jedenfalls dessen Extrembereiche. Gewaltdarstellung ist Mittel, aber nicht Zweck. Eine sabbernde Mumie kann genauso What the fuck! sein wie ein kahlköpfiger Übergewichtiger, der im pinken Plüschhasenkostüm durch den Supermarkt läuft. Das US-Blog boingboing.net, Walters Vorbild, folgt einer strikten Strategie: An jede Made, die aus einem Ohr gezogen wird, schließt sich etwas Kuscheliges zum wieder Wohlfühlen an. Vielleicht ein regenbogenfarbenes Einhorn. Denn es gelte zwar, Grenzen auszutesten und sie bewusst zu überschreiten, das Zurückkehren gehöre aber auch dazu. Skulpturen aus Süßigkeiten, wissenschaftliche Studien, Politik, abgetrennter Kopf, dann wieder Kunst. Das ist Walters Mischung.

Ein gutes Beispiel ist die Maske aus Hühnerhaut. René Walter hat sie im Juni gepostet. Eklig, aber auch eine „einzigartige Geschichte“, sagt der Blogger. Er habe vorher und nachher nie wieder eine Maske aus Hühnerhaut gesehen. „Auf punktuelle Großartigkeiten hinzuweisen, das ist mein Ziel.“ Outstanding muss es sein, noch so ein Codewort für etwas bisher Ungesehenes, das nicht ungesehen bleiben darf. „Die Hühnerhaut-Maske war definitiv outstanding“, sagt Walter.

Es gibt Grenzen der Geschmacklosigkeit. Im Fall von Nerdcore sind sie rigide. René Walter zeigt nichts, bei dem Menschen tatsächlich zu Schaden kamen. Hinrichtungs- und Foltervideos, die es auch in den Untiefen des Internets gibt, sollten nicht frei verfügbar sein, sagt er. Da wird deutlich, wozu Schockinhalte nämlich auch dienen: der Selbstvergewisserung, dem Erkennen der eigenen Werte, die einen leiten.

Der Literaturwissenschaftler Dirck Linck hat einen klugen Aufsatz geschrieben über Motive, warum sich Menschen an drastischen Darstellungen erfreuen. Und kommt zu dem Schluss, dass Steigerung zwingend notwendig ist. „Nichts ist harmloser als der Schock von gestern.“ René Walter teilt das. Seine Konsequenz ist aber nicht, dass er umso drastischere Gewaltszenen zeigt. Sondern dass er sich anderen Bereichen zuwendet. Forschung zum Beispiel. Am Donnerstag hat René Walter Neuigkeiten von der Universität Peking gepostet: dass bald Gummibärchen produziert werden könnten, die menschliche DNA enthalten. Ganz fraglos WTF.

Kleine Blogkunde

Boing Boing. Mehrfach ausgezeichnetes US-Blog, das sich mit Kuriosa aus den Bereichen Technik, Science Fiction, Geschichte und Popkultur beschäftigt. Ursprünglich ein Printmagazin, seit dem Jahr 2000 ausschließlich in Blogform. Aktuelle Beiträge: eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob Marihuana-Rauchen Bürgerrecht ist und eine 81-Jährige, die sich den Warnhinweis „Bitte nicht wiederbeleben“ auf die Brust tätowieren ließ.

Nerdcore. 2005 gestartetes Blog über staunenswerte Fundstücke aus den Themenfeldern Comics, Horror, Technik und Forschung, Musik und Nonsens. Der Wert der Seite wird auf 50 000 Euro geschätzt. Unbedingt sehenswert: Die Darstellung der europäischen Finanzkrise mithilfe von Legofiguren.

Dangerous Minds. Sieht sich als Kompendium für „Seltsamkeiten, popkulturelle Schätze und Punk Rock“. Gerade online: Wie klingt es eigentlich, wenn man Stevie Wonder mit Metallica mixt?

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