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Gesellschaftskritik: Grenzt euch ab!

Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt ebenso radikal wie die industrielle Revolution. Wie damals müssen wir die Entgrenzung der Arbeit zähmen, findet Mercedes Bunz.

Die technische Revolution „Digitalisierung“ verändert unsere Gesellschaft grundlegend, doch um diesen Wandel bleibt es merkwürdig still. Als Reaktion auf die Industrialisierung füllten sich damals die Straßen mit Lärm und Leben und die Köpfe mit der Hoffnung oder Angst vor der Revolution des Proletariats. Unsere Reaktion auf die digitale Revolution und unsere Erwartungen an sie, all das ist im Vergleich dazu sehr verhalten. Gut, ab und an jammern wir ein wenig, aber so etwas wie das Maschinenstürmen blieb bislang aus. Und das, obwohl der digitale Wandel sogar noch rasanter vor sich geht als der industrielle. Vielleicht liegt das an den Formen, wie wir Digitalisierung beobachten. Meistens reflektieren wir dazu ja in gedruckten Zeitungsartikeln oder auf online veröffentlichten Blogposts, und beide gehen ja mit der Zeit. Müsste man nicht einmal länger in die Zeit hineingucken? Ich bin ein Jahr täglich in die Bibliothek gefahren, um inspiriert von ihren ehrwürdigen Hallen darüber nachzudenken, welche Auswirkungen Digitalisierung auf unsere Gesellschaft hat. Schon Nietzsche wusste ja, dass die Form mitschreibt, beim Fassen der Gedanken.

Klar war von Anfang an: Wir sollten die Digitalisierung weitaus stärker gestalten, ähnlich wie wir die Auswirkungen der Industrialisierung durch neue Gepflogenheiten und Regeln abgefedert haben. Dass sich mit der Digitalisierung nämlich jede Menge grundlegend ändert, zeigt ein Blick darauf, wie wir heute Arbeit verstehen – und schnell sieht man dann auch: Hier muss man gutes Benehmen noch einmal ganz neu lernen.

Vordigitale Erfahrung wird wertlos

Natürlich kann man ganz allgemein davon ausgehen, dass sich nicht nur durch Digitalisierung, sondern einfach im Zuge der Zeit die Art und Weise verändert, wie wir Arbeit begreifen. Ist man heute arbeitslos, droht nicht mehr der Hunger. Nur noch die Identität stürzt ins Elend – eine manchmal nicht weniger drastische Erfahrung, die man sehr ernst nehmen muss. Die grundlegenden Verschiebungen rund um den Begriff der Arbeit zeigen jedoch deutlich, dass nicht nur die Zeit im Allgemeinen, sondern auch die Digitalisierung im Besonderen dabei ihre Finger im Spiel hat.

Ein Beispiel: Um mit der derzeitigen technischen Innovation mithalten zu können, die ja nie aus der Puste zu kommen scheint, hilft vordigitale Erfahrung wenig. Fieserweise ist deshalb der Begriff des „Dienstalters“ heute anders als früher konnotiert: Alter gilt als Problem und nicht als Auszeichnung. Digitalisierung gestalten, hieße daher auch, nicht immer gleich über das Ziel hinauszuschießen. Zwar ist es richtig, dass die Rechnerkenntnisse der sogenannten „digital natives“ sich oft sowieso nur auf ganz bestimmte Techniken wie Chatten oder Spielen beschränken. Klar muss aber auch sein: Computerkenntnisse sind seit einigen Jahren keine Fachkenntnisse mehr, sondern schlichtweg die Voraussetzung für das Ausführen der meisten Tätigkeiten, ähnlich wie es früher das Lesen und Schreiben war. Hat der Computer auch bei Ihnen den Kugelschreiber vom Arbeitsplatz verdrängt? Arzt und Krankenschwester jedenfalls notieren heute neue Entwicklungen in der elektronischen Krankenakte und nicht mehr auf einem Blatt Papier. Auch der Schaffner im Zug fummelt neben der silbernen Zange immer fleißig an seinem dunkelgrauen elektronischen Klotz herum, dem Fahrkartenlesegerät. Oder der Arm des Investmentbankers. Der wedelt natürlich schon lange nicht mehr wild über das Börsenparkett, um Ankauf und Verkauf zu signalisieren. Er schwebt nun über einer Computertastatur, um gegebenenfalls einzugreifen, wenn sich der Algorithmus beim Ankauf oder Verkauf verhaspelt und der Bank ein finanzielles Desaster droht.

Der Computer ist weit über Schreibtischtätigkeiten hinaus zu einem Teil des Arbeitsalltags geworden. Und das hinterlässt Spuren in unserem Verständnis von Arbeit.

Dank Smartphones ragt die Arbeit auch in die Freizeit hinein

Die Arbeitszeit ragt mit den Smartphones deutlich in die Freizeit hinein. Die Schuld dafür kann man allerdings nicht der Digitalisierung in die Schuhe schieben, nicht einmal aus der Position eines überzeugten historischen Materialisten, der ja daran glaubt, dass die Produktionsmittel die Grundlage der Gesellschaftsordnung maßgeblich beeinflussen. Viele von uns können sich sicher noch erinnern: Die Ausbreitung der Arbeit in unsere Freizeit begann schon kurz vor der Digitalisierung. Verursacht wurde sie durch das Mobiltelefon. Dieses damals noch backsteingroße Ding verursachte jene Ausweitung der Kampfzone, denn mit einem Mal waren wir erreichbar.

Eltern erschien diese neue Ausweitung der Kontrolle oft als Segen, konnte man doch nun durch einen Anruf erfahren, wo das Kind war und ob es ihm gut ging. Für die Sprösslinge hatte das dieselben Nachteile wie für Arbeitnehmer: Die neue Erreichbarkeit ist meist ein Fluch. Als sich das Mobiltelefon in einen kleinen tragbaren Computer verwandelte, der nun auch E-Mails abrufen und abschicken konnte, wurde daraus ein kleiner Arbeitsplatz für die Hosentasche. Ein derartiger Umbruch muss natürlich gestaltet werden. Man muss nicht gleich nach Gesetzen rufen, oftmals reicht einfach ein Rückbesinnen auf gutes Benehmen und die bislang geltenden gesellschaftlichen Regeln.

Digitalisierung gestalten kann so beispielsweise heißen, seinen Untergebenen und Kollegen auch einmal Ruhe zu gönnen. So wie man früher bei uns in der Kleinstadt nach neun Uhr abends nicht mehr andere Leute anrief, sollte man am Wochenende keine Arbeits-E-Mails verschicken. Zudem sollte es Teil der Arbeitsethik werden, an seinen Geräten den Knopf zum Ausschalten zu finden – ja, damit sind noch immer alle digitalen Geräte ausgestattet! Ein Leben außerhalb der Arbeit zu führen, ist menschlich wichtig und vielleicht sogar gleichzeitig ökonomisch. Die Batterien aufzuladen tut auch der Arbeit gut.

Althergebrachte Benimmregeln wieder zu beherzigen und Arbeitsgrenzen anzuerkennen, das wird in Zukunft noch wichtiger, weil nach der Arbeitszeit auch der Arbeitsplatz beginnt, das Büro zu verlassen. Die zunehmende Heimarbeit und federleichte Laptops weisen in diese Richtung.

Doch anstatt die Digitalisierung als Chance zu begreifen, unser Leben besser zu gestalten, verhalten wir uns bislang meist abwehrend passiv. Wir sehen und diskutieren vor allem die Gefahren und das ist auf die Dauer ungesund.

Mercedes Bunz war Online-Chefin des Tagesspiegels. Heute lebt sie in London. Um ihre Thesen zur Digitalisierung auszuarbeiten, hat sie dem schnellen, journalistischen Rhythmus für eine Weile abgeschworen und sich ein Jahr lang in eine Bibliothek zurückgezogen. Ihr Buch erscheint an

Mercedes Benz bloggt zur Digitalisierung der Gesellschaft.
Mercedes Benz bloggt zur Digitalisierung der Gesellschaft.

© privat

diesem Wochenende bei Suhrkamp: Die stille Revolution: Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen.

Mercedes Bunz bloggt unter www.mercedes-bunz.de und twittert als @MrsBunz.

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