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Gratiszeitungen

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Gratiszeitungen: Grenzenlos kostenlos?

Nach dem Aus von Dänemarks "Nyhedsavisen" prophezeien Experten das Ende der Gratiszeitungen.

Wenn an diesem Samstag der Axel Springer Verlag zum ersten Mal sein „Berliner Morgenpost Wochenend-Extra“ per Post an eine Million Berliner Haushalte verteilen lässt, werden sich wohl nicht alle Empfänger über diese kostenlose „Leseprobe“ freuen. Bestellt haben sie das Blatt, in dem bereits erschienene „Morgenpost“-Artikel, Servicetipps und Anzeigen gedruckt werden, schließlich nicht. Gegenwehr ist jedoch zwecklos, denn das Blatt ist aufgrund des redaktionellen Teils keine Reklame und landet deshalb auch bei denen im Briefkasten, die ausdrücklich keine Werbung wollen.

Die Dänen hatten mit ganz anderen Papierbergen zu kämpfen. Aus ihren Briefkästen quollen eine Zeitlang jeden Morgen drei Gratiszeitungen. Auf dem Weg zur U-Bahn wurden den Einwohnern von Kopenhagen zwei weitere kostenlose Zeitungen in die Hand gedrückt und einige Monate lang gab es sogar auch noch abends ein Gratisblatt – alles Teil einer regelrechten Papierschlacht, die sich Verlage bis vor wenigen Wochen um Leser und Anzeigenkunden in Dänemarks Großstädten lieferten. Auslöser dieses Kampfes: Die Gratiszeitung „Nyhedsavisen“, die vor zwei Jahren von Investoren des isländischen Dagsbrún-Verlags auf den dänischen Markt gebracht und kürzlich eingestellt wurde – obwohl die Pläne zunächst revolutionär geklungen hatten:Als erste Gratiszeitung sollte „Nyhedsavisen“ direkt nach Hause geliefert werden, eine hundertköpfige Redaktion sollte so spannende und hochwertige Artikel wie Boulevard- und Abozeitungen produzieren. Doch am Ende war „Nyhedsavisen“, inzwischen vom dänische IT-Unternehmer Morten Lund übernommen, nicht mehr zu finanzieren. 120 000 Euro soll das Blatt täglich in den Sand gesetzt haben, insgesamt beliefen sich die Kosten auf 175 Millionen Euro.

Das Aus von „Nyhedsavisen“ dürfte erhebliche Konsequenzen für die Zeitungsbranche haben. Denn nicht nur ein ambitioniertes Gratiszeitungsprojekt ist damit gescheitert, sondern „das Ende der Gratiszeitungen eingeläutet“, sagt Michael Haller, Professor für Journalistik an der Universität Leipzig. Auch in der Schweiz, mit sieben Gratisblättern einer der am meisten umkämpften Märkte, rechnen Experten damit, dass bald die ersten Gratiszeitungen eingestellt werden: „Die Branche hat nur darauf gewartet, dass einer aufgibt. Jetzt werden andere folgen“, sagt Hanspeter Lebrument, Präsident des Verbandes Schweizer Presse.

Dabei mangelt es Gratisblättern nicht an Lesern. „Nyhedsavisen“ erreichte täglich 550 000 Menschen und war damit die meistgelesene Zeitung Dänemarks. Das Problem ist die Finanzierung. Denn in konjunkturell schlechten Phasen sparen Unternehmen an der Werbung. Während Kaufzeitungen in der Regel zwei Drittel der Umsätze mit Anzeigen und Werbung und ein Drittel mit dem Vetrieb erzielen, sind Anzeigen die einzige Einnahmequelle der Gratiszeitungen. Um das schrumpfende Werbevolumen wird wie in Dänemark gekämpft. Eilig hatten dort die traditionellen Verlage, die „Jyllands-Posten“ und „Berlingske Tidene“ herausgeben, eigene Gratisblätter auf den Markt geworfen, um sich vor „Nyhedsavisen“ ihren Werbeanteil zu sichern. Einen ähnlichen Zeitungskrieg hatte es bereits 1999 in Deutschland gegeben, als die schwedische Verlagsgruppe Schibsted in Köln eine deutsche Version ihrer Gratiszeitung „20 Minuten“ veröffentlichen wollte. Der Springer-Verlag („Bild“) und der Verlag Du Mont („Kölner Stadt-Anzeiger“, „Express“) sahen ihre Blätter bedroht und brachten zur Abwehr eigene Gratiszeitungen heraus. Ein Verlustgeschäft für die beiden Verlage, doch ließen sie dem Neuankömmling keine Chance, ihnen Werbeanteile wegzunehmen und sich zu etablieren. Die Strategie ging auf: Schibsted musste „20 Minuten Köln“ im Juli 2001 aus Kostengründen einstellen, keine zwei Tage später druckten auch die beiden deutschen Verlage ihre Gratisblätter nicht mehr.

Dass er nun selbst mit dem „Wochenend-Extra“ in den Gratiszeitungsmarkt einsteigt, streitet der Springer-Verlag ab. Das Blatt sei wegen der Postzustellung, der wöchentlichen Erscheinungsweise und nichtaktuellen Berichte keine Gratiszeitung im herkömmlichen Sinn, sondern nur eine Leseprobe, mit der neue Leser gewonnen werden sollen. Zusätzliche Anzeigenerlöse sollen wirtschaftlichen Erfolg bringen. Echte Gratiszeitungen seien nicht geplant. Trotzdem will Hans Joachim Fuhrmann vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger nicht ausschließen, dass es auch nach dem Ende von „Nyhedsavisen“ neue Versuche in Deutschland geben könnte, eine Gratiszeitung zu gründen: „Deutschland gehört zu den interessantesten Medienmärkten überhaupt, im Vergleich mit anderen europäischen Märkten wird mehr gelesen.“ In Köln habe sich gezeigt, dass vor allem junge Menschen die Gratisblätter mit ihren vielen Fotos, kurzen Texten und boulevardesken Stücken schätzen. Wenn, dann wage jedoch ein nichtdeutscher Medienkonzern wie Schibsted den ersten Schritt, sagt Fuhrmann. „Die deutschen Verlage wollen sich nicht selbst kannibalisieren. Aber sobald die erste Gratiszeitung kommt, werden viele Verlage nachziehen. Einen entsprechenden Dummy haben fast alle in der Schublade liegen.“

Haller glaubt, dass diese Dummys erst gar nicht herausgeholt werden müssen. Gratiszeitungen seien nur ein Zwischenprodukt und nicht zukunftsfähig, weil das Werbevolumen schrumpfe und sich auch noch auf immer mehr Medien verteile. Stattdessen würde sich der Markt neu strukturieren. In etwa vier Jahren würden Pendler einen Teil ihrer Informationen per Handy lesen, zur Verfügung gestellt von Online-Diensten oder Zeitungen. „Daneben bleiben Qualitätszeitungen wie der Tagesspiegel unentbehrlich, weil sie in der Informationsflut Orientierung bieten und Hintergründe liefern“, sagt Haller.

Für bereits bestehende Gratiszeitungen gebe es nur eine Chance zu überleben – sie müssten sowohl regional als auch überregional stark sein. So wie „20 Minuten“ in der Schweiz, vom Verlag Tamedia herausgegeben und das einzige Gratisblatt, das nach Angaben des Verbandes Schweizer Presse schwarze Zahlen schreibt. „20 Minuten“ erscheint in Städten wie Bern, Basel und Zürich mit Lokalteilen – unabdingbar im Wettbewerb mit den Kaufzeitungen, denn in der Schweiz sind 95 Prozent Regionalzeitungen. „Für redaktionell schwach besetzte Gratiszeitungen ist es kaum möglich, gut recherchierte Informationen für jeden Kanton zu bieten, dadurch entsprechend viele Leser und so wiederum viele Werbekunden zu erreichen“, sagt Lebrument. Deshalb vermutete er, dass nach der Kapitulation von „Nyhedsavisen“ auch andere Verlage die verlustreichen Schweizer Gratisblätter wie „.ch“ oder „News“ bald einstellen.

Das Ende werden die Verleger dann wohl kaum so wütend wie Lund bekannt geben. Nach der Einstellung von „Nyhedsavisen“ schrieb er auf seiner Website: „Fuck – Musste meine Zeitung schließen – ich hasse, HASSE es, zu verlieren.“

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