zum Hauptinhalt

Medien: Hundertmal Deutschland

Maybrit Illner oder der unbedingte Wille zur bedeutenden Talkshow

Von Barbara Nolte

Das Büro. An der Rückwand eine um Zusammenbruch bettelnde Kleiderstange: Fernsehoutfits für alle Fälle. Gegenüber, im Regal, die Trophäensammlung: ein Rehkitz (Bambi) und eine Kristallpyramide (Deutscher Fernsehpreis). Maybrit Illner steht mit dem Rücken zur Tür, übers Telefon gebeugt. „Und gleich morgens früh, ginge das?“, sagt sie in den Hörer. Sie will einen Flug nach Moskau buchen, was offenbar nicht so einfach ist. „Horrido!“, ruft sie plötzlich: Buchung geglückt. In Moskau soll, nein, dort darf sie Putin interviewen. Putin, Bush – das sind die höchsten Weihen für Moderatoren. Es ist doch noch für etwas gut, Russisch gelernt zu haben, damals im Osten, wo sie aufgewachsen ist.

Maybrit Illner bittet an einen weißen Plastiktisch, der nach Ikea aussieht. Sie ist noch immer Mitarbeiterin des Zweiten, was insofern bemerkenswert ist, als dass ihre Kollegen Jauch, Schmidt, Christiansen und sogar Plasberg, dessen Erfolg so spät kam, in der Regel ihre eigene Produktionsfirma gründen, sobald sie den Durchbruch erleben. Sie stellen ihre Sendungen selbst her und verkaufen sie an den alten Arbeitgeber. Ein gutes Geschäft: Man hat null unternehmerisches Risiko, verdient aber ein Vielfaches an Geld. Illner ist Journalistin geblieben und keine Geschäftsfrau geworden. Das ist schon mal sympathisch. Sie fängt gerade an, ihre heutigen Termine aufzuzählen, als ihr Handy klingelt. „Moment“, bittet sie und nimmt ab: „Ey, hallo, hallo. Ich sitze hier mit einer Journalistin. Auf bald ... Juhu!“

„Juhu“? Maybrit Illner hat offenbar einen Hang zu Ausrufen aller Art, der in den vielen Porträts, die mit den Jahren über sie geschrieben wurden, unerwähnt blieb. Eigentlich immer wird sie darin als Anti-Christiansen beschrieben. Kein Artikel kommt ohne den Vergleich aus. Wahrscheinlich weil Illner die Antwort des ZDF auf Christiansens Sonntagstalkshow war; im Jahr 1999 fing sie mit „Berlin Mitte“ an. Illner kam als Zweite, und sie blieb die Zweite, was die Zuschauerzahlen angeht. Aus dieser zweiten Position hat sie ihre Rolle abgeleitet. Maybrit Illner erinnert ein bisschen an die kleinere Schwester, die frei vom Erwartungsdruck, der auf der Älteren lastet, unbekümmert agieren kann. Was auch immer sie tut: Illner kann Christiansen gar nicht einholen. Christiansen hat den besseren Sendeplatz. Der vor ihr laufende „Tatort“ schaufelt Millionen Zuschauer in ihre Sendung. Nun aber hört Sabine Christiansen im Sommer auf. Es ist ein besonderes Jahr für Maybrit Illner: Sie kann zur Nummer eins aufsteigen. Oder aber der Polittalk, dieses lahmende Format in Zeiten der großen Koalition, verschwindet mehr und mehr in der Bedeutungslosigkeit.

Im März hat das ZDF Maybrit Illners Sendung schon einmal um eine Viertelstunde verlängert, in „Maybrit Illner“ umbenannt und mit Einspielfilmen und Grafiken angereichert. Ein bisschen erinnert das neue Konzept an Frank Plasbergs WDR-Sendung „Hart aber Fair“, die die ARD als neue Konkurrenz von Herbst an mittwochs ins erste Programm nimmt. „Bereits nach der Bundestagswahl haben wir an ein paar Stellschrauben gedreht“, sagt Maybrit Illner. Selten säßen bei ihr mehr als zwei Politiker in der Runde, immer kombiniert mit „inspirierten Andersdenkenden“. „Wir haben ständig kleinere und größere Konferenzen, in denen wir uns überlegen: Wer sind die Personen, die dafür sorgen, dass man mit Freude einen provokanten Austausch von Gedanken erlebt?“

Die Konferenz. Wolfgang Klein sitzt schon da. Seit vergangenem Sommer ist er der Redaktionsleiter, abgeworben pikanterweise von Christiansen. Klein hat die Umwidmung des Polittalks zum Ersatzparlament, wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse einmal sagte, organisiert. Hinter Klein steht eine weiße Tafel, auf die das Wort „Gammelfleisch“ geschrieben ist. Offenbar das Thema, das in dieser Woche für einen provokanten Austausch von Gedanken sorgen soll. Fehlen noch die Gäste. Die Redakteure referieren, wen sie schon angerufen haben. Seehofer, den Verbraucherminister – „nur die Mailbox“. Hoeneß, den Bayern-Manager. Diesmal angefragt in der Rolle des Wurstfabrikanten – „Er will nicht.“ Illner nimmt sich einen Stuhl am Kopfende. „Peter Kloeppel wäre gut – wer weiß schon, dass er Agraringenieur ist?“, sagt Illner. Oder Ulrich Wickert, der sei als Bonvivant abgebucht.

Für jede Woche planen sie eine Alternativsendung. Diesmal zum Thema Rente. Maybrit Illner schlägt die GästeKombination Wickert und Katharina Saalfrank vor. Zwei Generationen: der „Tagesthemen“-Rentner und die Super-Nanny. Ja, fallen ihr denn nur Kollegen ein? Der Soziologe Niklas Luhmann hätte darin ein weiteres Anzeichen dafür gesehen, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme Wissenschaft, Politik oder Medien sich immer weniger gegenseitig wahrnehmen, sondern nur noch sich selbst. Nach Luhmanns Systemtheorie ist es nur logisch, dass in den Talk-Runden auf einmal andauernd der Schauspieler Sky Du Mont sitzt, Untertitel: FDP-Mitglied, und nicht mehr der FDP-Chef Westerwelle. Aber wahrscheinlich ist die Erklärung zu abgehoben. Es ist eher so, dass die Talkshow-Redaktionen nach bekannten, beliebten Gesichtern jenseits der Politik suchen, die die Zuschauer kurz vom Weiterzappen abhalten sollen. Wickert zur Rente oder zum Gammelfleisch, egal – beide Male ein Einschaltimpuls, wie Illner sagt. Talkshow-Redaktionsarbeit im 21. Jahrhundert muss man sich so vorstellen: Man mischt die hundert Menschen, die sich zur Verfügung gestellt haben, Deutschland zu spielen, immer wieder neu zusammen.

Die Sendung. Es ist das Thema Rente geworden. Zu Gast ist Philipp Missfelder, der Junge-Union-Chef, Ulrike Mascher vom Sozialverband VdK und der „Stern“-Reporter Walter Wüllenweber. Statt Wickert und Saalfrank sitzt jetzt „Fernsehgarten“-Moderatorin Andrea Kiewel in der Runde, die erst mal gar nichts mit dem Thema Rente zu tun hat, außer dass Rentner sie offenbar mögen. Ihre Sendung hat selbst für öffentlich-rechtliche Verhältnisse alte Zuschauer. Außer von Wüllenweber war von keinem in der Konferenz die Rede. Vielleicht ist es ja so, dass Talkshow-Besetzungen heute eher durch Absagen als durch Zusagen zustande kommen.

Zum Einstieg fragt Maybrit Illner die Kollegin Kiewel. „Papst Benedikt macht mit 79 einen Vollzeit-Job. Ist das die Zukunft, weitere 38 Jahre vor der Kamera zu stehen?“ Eines ihrer großen Talente ist, durch ungewöhnliche Fragezugänge Schwung in trockene Themen zu bringen. Ein weiteres ist ihr lockerer Ton, mit dem sie die staatstragenden Phrasen des politischen Establishments bricht. „Schon mal eine SMS an den falschen Adressaten geschickt?“, fragt sie zum Beispiel zwei Wochen später Angela Merkel, als wäre Merkel nicht Bundeskanzlerin, sondern eine gute Bekannte. Die Merkel-Sendung ist besonders gut gelungen: Maybrit Illner hat ihr ziemlich zugesetzt, Merkel windet sich. Doch trotzdem ist die Journalistin von der Nachrichtenagentur, die die Sendung live im Nebenraum verfolgt, am Ende ratlos: Angela Merkel hat ihrer Ansicht nach nichts wirklich Nachrichtenrelevantes gesagt. „Maybrit Illner kann nichts dafür“, sagt sie. „Merkel sagt immer nur etwas Neues, wenn sie sich das vorgenommen hat.“ Das klingt frustrierend: Man kann also die kunstvollsten Fragen stellen – die Politiker sind nicht mehr aus der Reserve zu locken. Sie sind autistische Kommunikatoren, wie die Tagesspiegel-Autorin Kerstin Decker schrieb, fest entschlossen, nur das zu sagen, was sie wollen. „Aber das ist ja gerade der Sport“, sagt Illner. „Die Politiker versuchen auszuweichen, und ich versuche, bei meinen Fragen zu bleiben. Manchmal stelle ich mich ,dumm‘: Ich sage vier Mal hintereinander, dass ich etwas nicht verstanden habe.“

Ein bisschen so muss man sich ein Interview mit Illner selbst vorstellen. Man fragt und fragt: dieselbe Frage vier Mal. Maybrit Illner bleibt immer nett, sie nimmt sich wirklich viel Zeit. Doch am Ende räumt sie nichts ein, lässt nichts auf sich sitzen. Es habe in der Merkel-Sendung sehr wohl eine harte Nachricht gegeben, sagt sie: Merkel habe angekündigt, dass, wenn die Steuereinnahmen weiter so sprudelten, sie das Geld in die Krankenversicherung steckte, damit die Beiträge weniger anstiegen. Niemals würde man von Illner hören: „Ja, manchmal finde ich es wahrlich frustrierend. Was kam schon heraus aus dem Merkel-Interview als ein Konditionalsatz, der kurz durch die Berliner Debatten geisterte?“ Maybrit Illner wählt das sichere Statement, dabei in Kauf nehmend, dass es nach PR-Prospekt für ihre Sendung klingt. Ihre Originalität lebt sie in unorthodoxen Sprachbildern aus. „Es gibt einen echten Reformbedarf in Deutschland“, sagt sie zum Beispiel, „und fatalerweise hat die deutsche Politik dabei zugeguckt, wie zu einem chronischen Asthma noch ein akuter Keuchhusten kam.“ Das würde keiner so formulieren, dem würde aber auch keiner widersprechen.

Auch parteipolitisch will sich Illner nicht festlegen. So erinnert sie nicht an Nowottny, Willemsen oder Küppersbusch, die in ihrer Zeit als die großen Talente des anspruchsvollen Fernsehens galten, sondern eher an, ja, Christiansen. Sie ist ähnlich vorsichtig. Nur dass sie ihre Ironie als weiteren Schutzschild einsetzt. Ist dieser unbedingte Wille zur Unverfänglichkeit der Preis, den Frauen zahlen, um ganz nach oben zu kommen?

Die After-Show-Party. An einem der Stehtische im ersten Stock des ZDF-Hauptstadtstudios haben sich Walter Wüllenweber und Andrea Kiewel zusammengestellt und streiten über Schulpolitik; Kiewel erzählt von den Erfahrungen ihrer Kinder, Wüllenweber hält Statistiken dagegen. Die beiden sind noch für weitere Sendungen einsetzbar. Bis zwölf stehen sie noch zusammen. Illner, gut gelaunt in der Mitte, ein alkoholfreies Bier in der Hand. Das Bild bleibt irgendwie haften, weil das Getränk so gut zu ihr passt: Sie will locker wirken – und trotzdem immer die Kontrolle behalten.

Gekürzter Vorabdruck aus: Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt. Hrsg. von Stephan A. Weichert und Christian Zabel. 421 Seiten. Herbert von Halmen Verlag, Köln. 23 Euro. Im Buchhandel ab 4. Mai. Weitere Informationen unter www.alpha-journalisten.de

Zur Startseite