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Medien: In der Fernseh-Anstalt

Sat-1-Serie räumt mit Vorurteilen über die Psychiatrie auf – sagt einer, der drin war

Von Hartmut Wewetzer

Ich kann mich noch ziemlich gut an meinen ersten Tag in der Psychiatrie erinnern. Ein Pfleger schloss uns, drei Medizinstudenten, die Tür zur Station auf. Laut fiel sie hinter uns ins Schloss. Wir waren drin. Und wir waren fremd. Schlagartig schienen uns die Insassen zu umringen. Männer und Frauen, Alte und Junge. Gestikulierend, schreiend, lachend, stumm. Sie kamen auf uns zu, und instinktiv schreckten wir zurück. Ist Wahnsinn ansteckend?

Der Pfleger führte uns durch lange braune Korridore und Stationszimmer, bis wir schließlich dem Oberarzt gegenüberstanden. Mit seinem wirren Haar, dem Schnauzbart und der Zigarre erinnerte er an Groucho Marx. Er musterte unsere verwirrten Gesichter amüsiert, sog an seiner Zigarre und sagte: „Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Expedition, und sie treffen einen fremden Stamm. Ihre Sprache spricht hier niemand. Aber wenn Sie die Sprache des Stammes lernen, wird man Sie verstehen."

Die Psychiatrie, ein fremder, ein irritierender Kontinent. Kein anderer Bereich der Medizin scheint so von Mythen und Vorurteilen beladen. Seelische Leiden sind geheimnisvoll, psychisch Kranke gelten vielen als gefährlich. Und psychiatrische Kliniken sind Orte, wo die Willkür regiert und Menschen von der Gesellschaft mit Medikamenten betäubt und ruhig gestellt werden. So will es das Klischee, das von Filmen wie „Einer flog über das Kuckucksnest“ bestärkt wurde.

Ausgerechnet eine deutsche Fernsehserie räumt nun mit den falschen Vorstellungen auf. „Die Anstalt“ (21 Uhr 15, Sat 1) ist auf der geschlossenen Station der fiktiven psychiatrischen Klinik „Rosental“ in Berlin angesiedelt.

Psychiatrie als Seifenoper? „Die Anstalt“ ist natürlich kein wissenschaftlicher Lehrfilm über die Abgründe der Psyche. Aber die neue Serie bemüht sich darum, dem Thema sachlich gerecht zu werden. Einfühlsam und detailgetreu werden die Atmosphäre in der Psychiatrie und die Charaktere von Betreuern und Patienten gezeichnet. Zum Beispiel die Geschichte von Lena Kowacz. Sie hat einen düsteren Begleiter. Er heißt Armin, und niemand außer Lena kann ihn hören oder sehen. Lena ist schizophren, ihr Begleiter eine Halluzination, und untergebracht ist die sensible junge Frau auf der geschlossenen Station P2 der psychiatrischen Klinik „Rosental“ in Berlin. Gespielt wird sie von Jennipher Antoni.

„Die Anstalt“, produziert von Marc Conrad und inszeniert von einem Team von Regisseuren, zeigt die ganze Bandbreite seelischer Leiden: die schizophrene Lena, der hirngeschädigte Felix, der zwangskranke Stefan, der paranoide Erich. Die Figuren wirken glaubhaft, auch wenn natürlich zugespitzt wird, um die Spannung zu steigern.

Dramatische Wendepunkte der Handlung akzentuieren den ruhigen Fluss der Ereignisse in der „Anstalt“. Gleich zu Beginn der ersten Folge geht es hoch her: Ein junger Mann wird vom Amtsarzt auf der Station untergebracht. Aber ist der Mann wirklich krank oder das Opfer einer Intrige?

Selbst mit den Einzelheiten hat man sich Mühe gegeben. Die Klinik „Rosental“ ist eine dieser typischen Backstein-Psychiatrien, die um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Peripherie der Großstädte entstanden, um die psychisch Kranken von der Außenwelt abzuschirmen (und die Außenwelt von ihnen). Das Mobiliar ist abgegriffen, die Station verkramt, die Therapeuten sind launisch und kreativ, abgeklärt oder eifrig, auf jeden Fall aber sind sie individuelle Persönlichkeiten und keine Ärzte von der Stange.

Vieles, was die Menschen über ihren Körper und über Krankheit wissen, haben sie aus den Arztserien im Fernsehen. Ihren medizinischen Bildungsauftrag nimmt die „Anstalt“ durchaus ernst. Wenn etwa die Chefärztin Constanze von Weyers (Jenny Gröllmann) die Kollegen von der Krankenhausverwaltung darüber aufklärt, dass „Schizophrenie eine genetische Krankheit“ ist und mit den „Botenstoffen im Gehirn“ zusammenhängt, so sagt sie damit zwar nicht die ganze Wahrheit. Aber sie nimmt dem Leiden das Dämonische und den Makel persönlicher Schuld. Und: Ansteckend ist es übrigens auch nicht.

Vielleicht wachsen am Ende die seelisch labilen Helden der „Anstalt“ den Zuschauern so ans Herz wie sonst nur Fernsehkommissare oder Chefärzte. Das wäre dann ein größerer Erfolg für die Psychiatrie-Reform als viele andere Bestrebungen der letzten Jahrzehnte, in denen man den gesellschaftlichen Umgang mit den „Verrückten“ zu entspannen versuchte – und die geschlossene Station einen Spalt weit öffnete.

Der Mediziner, Dr. Hartmut Wewetzer, leitet die Wissenschaftsredaktion des Tagesspiegels.

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