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© WDR

Medien: In weiter Ferne, so nah

Stehen bleiben oder weitergehen? Götz George brilliert in „Zivilcourage“

Was für ein Titel, welch plumper Fingerzeig! Einen politisch korrekten Wachrüttel-, Aufklärungs- und Erziehungsfilm will man uns, den strukturell Schwererziehbaren, zeigen? Dabei nimmt abends vor dem Fernseher die Resterziehbarkeit noch einmal um die Hälfte ab. Oder „Zivilcourage“ kann sich seinen Namen leisten, immerhin spielt Götz George mit.

Ja, dieser Film von Dror Zahavi kann ihn sich leisten, und George ist großartig, so großartig wie dieses ganze, überaus erstaunliche Stück Fernsehen, punktgenau, unsentimental, ganz und gar nicht mit fernsehalltäglichem zustimmungsheischenden Seitenblick auf den Zuschauer.

Wem gehört Kreuzberg? Der alte Obdachlose vom Kottbuser Tor, der nach Auffassung des jungen Kroaten Afrim seinen Hund nehmen und verschwinden soll, antwortet, sein Hund habe hundert Mal mehr Recht, hier zu leben, als er. Eine Auskunft, die ihn nur noch wenige Minuten bei Bewusstsein lässt. Ein alter Buchhändler, Inhaber eines Antiquariats, das in dieser Umgebung verloren wirkt, hat dieselbe Frage längst still für sich beantwortet. Er lebte hier schon, als in Kreuzberg vielleicht noch mehr gelesen, noch mehr gedacht wurde als anderswo. Das mag sich geändert haben, aber er wird sich nicht ändern. Und weggehen wird er auch nicht. Ein 68er kapituliert nicht!

Götz George spielt den Liebhaber alter Bücher Peter Jordan, und es braucht nur ein paar Sätze und die Art, wie er ein Buch zur Hand nimmt, um sicher zu sein, dieser Mann hat sein Leben mit bedrucktem Papier verbracht. Und alle Weltweisheit liegt für ihn in der Art und Weise, wie es sich voneinander unterscheidet. Auch ist es hier viel lohnenswerter, mit den Büchern zu sprechen statt mit Menschen.

Jordan ignoriert das Kreuzberg von heute mitsamt dem Jung-Macho-Treff auf der anderen Straßenseite so gut er kann, und auch als er die dumpfen Schläge hinterm Zaun hört, scheinen seine Füße noch klüger zu sein als er und setzen ihren Weg einfach fort. Allein für Georges Hochpräzisions-Bewegungsstudie – stehen bleiben oder weiterlaufen? – lohnte es, diesen Film zu sehen. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, dem jungen Schläger (mit der Pose der Stärke als einziger Ich-Behauptung: Arnel Taci) in den Arm zu fallen, sondern nur ums Stehenbleiben, um das Ich-habe-gesehen!

Was macht den Realismus eines Films aus? Vielleicht ist es die Genauigkeit in den kleinsten, beinahe unmerklichen Reaktionen. Einmal zum Gesehenhaben bereit, bricht der 68er in Jordan durch, und es ist ihm wie eine Befreiung. Der mündige Bürger eines selbstgeschaffen-mündigen Landes zeigt den Beinahe-Totschläger bei der doch wohl mündigen Polizei an. Und weil die Welt gerade so schön zurück ins Lot zu rücken scheint, kritisiert er gleich noch seine Tochter, die Haussmannstraßen-Flüchtige. Nur Spießer ziehen in heile Stadtrandwelten! Nein, so grob würde ein Jordan-George das nie formulieren, außerdem braucht seine Tochter nur wenige Worte, um die schöne alte neue Welt ihres Vaters zusammenfallen zu lassen: Er möge die Gitter vor den Fenstern seines Ladens doch nicht ganz vergessen. Und ob er verrückt geworden sei, zur Polizei zu gehen? Ob er wolle, dass ihren Kindern etwas zustoße?

Vor Jordans Büchertür beginnen also die geschlossenen Welten, so wie die Haussmannstraße selbst schon eine geschlossene Welt ist. Wer hier lebt, geht nicht mehr fort. Es ist die Stärke – man könnte sie auch Realismus nennen – von Jürgen Werners Vorlage, die verlorenen Milieus zugleich als Heimaten zu zeigen. So wie das Zuhause von Jessica, die für ihre Geschwister und die eigene Mutter sorgen muss, die dem Alltag nicht mehr gewachsen ist. Und doch ist da eine große Nähe zwischen beiden. Und wenn sie ihrer Mutter nicht versprochen hätte, nicht von der Schule zu fliegen, würde sie die Projektwoche bei diesem arroganten Gitterfenster-Buchhändler ohnehin nicht zu Ende machen. In den Unterredungen zwischen dem Antiquar und dem Mädchen größtmöglicher Buchstabenferne (Carolyn Genzkow) prallen zwei Welten höchst pointiert aufeinander, vorerst ohne klaren Gewinner.

Es mag ein Stück weit Fernsehdramaturgie sein, dass die widerborstige Praktikantin ausgerechnet die Freundin des Schlägers ist, aber man ist nicht verstimmt. Während dem Mädchen alle Fraglosigkeiten zerfallen, bekommt der Buchmann immer mehr zu spüren, was es bedeutet, den Kopf zu weit aus seinen Büchern gehoben zu haben. Das ist eine harte, ja schonungslose Zeichnung der Parallelgesellschaften, die vor Jordans und unserer Haustür beginnen. Dem in Israel geborenen Regisseur Dror Zahavi, der noch in der DDR an der Filmhochschule Potsdam studierte und dessen letztes Projekt „Marcel Reich-Ranicki – Mein Leben“ war, gelingt es zudem, unseren Blick für Augenblicke umzukehren und wie von außen auf die Nicht-Haussmannstraßen-Welt zu schauen: So unerreichbar fern ist also mitunter das, was die Ahnungslosen „Normalität“ nennen.

„Zivilcourage“, 20 Uhr 15, ARD

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