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© Andreas Lander

Informatikunterricht in Deutschland: Gegen den digitalen Analphabetismus

Der Informatikunterricht in Deutschland steckt in der Krise. Ob Schüler mit Powerpoint dahinsiechen oder Roboter zum Leben erwecken, entscheidet sich meist am Lehrer. Ein Besuch vor Ort.

Markus ist fünfzehn. Wenn er am Morgen aufwacht, checkt er WhatsApp und Snapshot auf dem Smartphone. Auf dem Weg zur Schule schaut er im Gruppenchat der Klasse nach, ob schon jemand am Vertretungsplan war und vielleicht krankheitsbedingt eine Unterrichtsstunde ausfällt.

Markus ist online. Schon immer. Seit er auf die Welt kam, war es da – das Internet. Er skypt, surft und streamt. Wenn man ihm das Netz nähme, wäre das wohl so, als baute man eine Mauer durch die Wirklichkeit. Getrennt von Freunden, abgeschnitten vom Rest der Welt. In der Schule schlurft er ins Computerkabinett. Informatik. Als der Lehrer den Raum betritt, dreht sich die Zeit zurück. Ein ganzes Jahrzehnt. Speckige Office-Programme begrüßen die Schüler. Powerpoint steht auf dem Stundenplan. Seit knapp einem Jahr baut Markus Präsentationen. Jede Stunde erhalten die Schüler ein Thema, in der nächsten stellt einer seine Folien vor. Auf Note. Für Animationen gibt es Pluspunkte. Seit drei Jahren besucht Markus den Informatikunterricht an einem Gymnasium im Nordwesten von Mecklenburg. Zwei Stunden pro Woche. Monatelang Microsoft-Folien. Im Jahr zuvor war Excel dran. Davor Word. Steht so im Lehrplan, sagt der Lehrer. Er ist 50 Jahre alt.

Viren findet Markus spannend. Und wie man sich davor schützt. Oder wie man verschiedene Geräte synchronisiert. Was macht man, wenn der Rechner abschmiert? Wie erstellt man ein Back-up? Das könnte man doch mal im Informatikunterricht behandeln, findet Markus. „Einmal haben wir an einem Projekttag über Datensicherheit und NSA, und so, geredet“, sagt er, „oder was die Facebook-AGBs für uns bedeuten. Das wäre interessant.“ Der Lehrplan sieht das anders.

Deutschland bildet eine Generation digitaler Analphabeten aus, sagen Kritiker

Kaum etwas verändert sich so schnell wie das Netz. Kaum etwas wird so berufsübergreifend gebraucht wie der Umgang mit Computern. Und doch klagen Organisationen wie der Chaos Computer Club seit Jahren darüber, dass Deutschland eine Generation von digitalen Analphabeten ausbilde. Im Informatikunterricht ist Deutschland Entwicklungsland. Zerstückelt durch den Bildungsföderalismus. Verheddert in einer 150 Jahre alten Lehrtradition. In manchen Bundesländern gilt Informatik als Wahlfach. Nur Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern verpflichten ihre Schüler. Hamburg schaffte das Pflichtfach sogar wieder ab. „Im 21. Jahrhundert nicht nachvollziehbar“, fand die Hamburger Schülerkammer. Doch für die Schulbehörde war Informatik „nicht für alle in gleicher Intensität vonnöten“. Berlin koordiniert sich mit Brandenburg und Mecklenburg. Aber auch dort, wo Informatik unterrichtet wird, bleibt die Zeit zuweilen stehen.

„Unsere Rechner sind neun Jahre alt“, sagt Toralf Beyer, Informatiklehrer am Tagore-Gymnasium in Marzahn. Es ist der Mittwoch vor den Ferien, acht Uhr morgens, leichtes Gemurmel in der Klasse. Die 16 Schüler haben noch ein paar Minuten, bevor die Stunde beginnt. „Doch wir kommen damit klar. Ich bringe ihnen Mini-Programmiersprachen bei. Damit sie lernen, in Computerprozessen zu denken, und auch schnell Erfolgserlebnisse haben, wenn etwas funktioniert. Denn nur wenn sie Spaß dabei haben, begeistern sie sich für das Fach.“ Dann dreht er sich um und gibt den Schülern die heutige Aufgabe: Sie sollen die Animation eines Bechers programmieren, der sich mit Wasser füllt. Wer fertig ist, darf noch ein paar aufsteigende Luftblasen in die Grafik einfügen.

Weil später viele Firmen verlangen, dass Arbeitnehmer sich mit Office-Programmen auskennen, degeneriert der Informatikunterricht zu oft zum Erlernen von Word, Excel und Powerpoint. In etwa so, als sei Mathematik die Lehre von der Bedienung eines Taschenrechners. Im Informatikraum des Tagore-Gymnasiums haben nach einer halben Stunde die ersten Codezeilen Form angenommen. Aus den Wasserbechern zweier Schüler steigen schon digitale Luftblasen empor. Auch wenn das Wasser in dem einen noch eher schwarz als blau ist.

Neben dem Programmieren werden Datenbanken behandelt. Für den Bereich theoretische Informatik will Toralf Beyer mit seinen Schülern den neuen Film über den Enigma-Entschlüssler Alan Turing sehen. Doch nach den Winterferien steht zuerst Karl, der Roboter, auf dem Plan. Dann sollen die Codezeilen der Schüler zum Leben erwachen.

Da der Rahmenplan für den Informatikunterricht in Berlin so schwammig formuliert ist, schwankt der Inhalt des Unterrichts an den Schulen stark. „Für mich ist das ideal“, sagt Beyer, „ich kann bis zu einem gewissen Maß machen, was ich will. Ausprobieren, was gut bei den Schülern ankommt.“ Dann ruft er seine Schüler zur Ordnung, weil das Gemurmel anschwillt. Um sie von Unsinn abzuhalten, patrouilliert er einmal durch den Raum. Doch der einzige Unsinn, der zwischendurch entstanden ist, sind Abwandlungen der Becher-Aufgabe. Vor einem Monitor bleibt Beyer stehen. Hier erstrahlt der Becher in Neonfarben und faltet sich dank einiger zusätzlicher Codezeilen am Anfang der Simulation wie ein Fächer auf. Beyer grinst und gibt seinem Schüler „einen Daumen hoch“. Spielereien, die aber zeigen, dass die Schüler Spaß haben. Und unaufgefordert kreativ werden.

Doch auch er gibt zu: „Beim Informatikunterricht in Deutschland liegt etwas im Argen. Wir begeistern unsere Schüler zu spät und zu wenig. Warum nicht schon in Grundschulen einfache Roboter bauen lassen? Warum nicht mehr ausprobieren?“ Das junge Fach Informatik sollte vor allen anderen in der Versuchsphase sein. Während sich die Technik jeden Tag neu updated, müssen Lehrer erst noch lernen, wie sie ihre Schüler unterrichten sollten. Meist sind sie, die Lehrer, kaum weniger Schüler in ihren Klassenräumen.

Weil es Spaß macht: Auch nach der Zeugnisvergabe wird weiter programmiert

Zwei Tage später, am Tag der Zeugnisvergabe, ist das Tagore-Gymnasium bereits um 13 Uhr geräumt. Die Tür zum Schulgebäude ist abgesperrt, weil selbst die Lehrer schon in die Ferien gegangen sind. Die Schule ist leer. Beinahe zumindest. Im Informatikraum sitzt Pascal. Er könnte jetzt zu Hause sein. Fernsehen. Chatten. Oder mit Kumpeln ins Kino gehen. Doch Pascal hockt zusammen mit seinen Freunden Tim und Johannes im Info-Raum. Und programmiert. Vor ihnen stehen zwei halb zusammengeschraubte keksdosengroße Roboter auf drei Rollen. Die drei Schüler sind Mitglieder der Robo-AG. Sie treffen sich jede Woche für mehrere Stunden, um zu codieren und an den Robotern zu basteln. Denn Ende Februar beginnen die Wettkämpfe, der German Open RoboCup. Pascal, Tim und Johannes treten in der Disziplin Fußball an. Oder besser: ihre Roboter, die dann selbstständig Tore schießen und verhindern sollen. Ein Preisgeld gibt es nicht. „Wir machen das nur für den Ruhm“, sagt Johannes. „Es gibt auch noch Roboter, die tanzen oder durch ein Labyrinth müssen. Aber beim Fußball, da ist Emotion. Da brüllen sich die Teams während des Spiels an. Das macht am meisten Spaß.“

Im Informatikunterricht haben die drei Jungs die Grundlagen gelernt. Jetzt müssen sie es in einer neuen Programmiersprache probieren. „Wir versuchen mal das eine, mal das andere. Und irgendwann klappt irgendwas“, sagt Johannes und zeigt auf den Roboter, „er heißt Olli. Beim Turnier hat er dann ein Bild von Oliver Kahn obendrauf“. Olli fährt bisher schon selbstständig einen Halbkreis vor dem Tor, erkennt herannahende Bälle und schießt sie automatisch wieder weg. Sorgen bereitet den Jungen ihr anderer Roboter, der Stürmer. „Wir haben derzeit keinen Sponsor. Deswegen fehlt es uns an stärkeren Motoren“, sagt Pascal, „aber wir versuchen es auch so.“ Warum sie selbst am letzten Schultag noch in der Schule hocken? „Es macht einfach Spaß“, sagt Johannes, grinst, zuckt mit den Achseln und befreit Olli, der sich am Pfosten des Tors verhakt hat.

Michel Penke

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