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Die gute alte Fleet Street, jene Zeitungsstraße in London, deren Name als Synonym für die britische Boulevard-Presse, für heikle Reporter-Methoden steht.

© AFP

Inside Boulevard: Gib mir einen Splash!

Beim Drama des Rupert Murdoch und seiner eingestellten Zeitung „News of the World“ kommen die Erinnerungen wieder hoch: an den Geschmack von Gin Tonic und Liebfrauenmilch, an den Geruch von Blut und schweren Lederschuhen. Ein Boulevard-Report.

Als Gast-Reporter beim „Sunday Mirror“, dem ärgsten Rivalen von Murdochs jetzt eingestelltem Sonntagsblatt „News of the World“, erlebte ich 1986 sechs verregnete Wochen lang einen ganz speziellen Haufen von Kollegen. Total durchgeknallt, irgendwie verrucht und offenbar nur zwei Dinge im Sinn: Wie bekomme ich eine große Geschichte in den Block, und wie donnere ich in den paar Stunden der Pub-Öffnungszeiten möglichst viele Drinks die Kehle runter? Gleichzeitig waren es die letzten Wochen der alten Fleet Street, jener Zeitungsstraße, deren Name bis heute als Synonym für die britische Boulevard-Presse steht. Denn im selben Jahr hatte „The Rup“, wie sie Rupert Murdoch in der Fleet Street nannten, seine Zeitungen in das Industrieviertel Wapping verlegt, um die Gewerkschaften abzuschütteln. Damals ahnte es noch niemand: Es war der Anfang vom Ende des berühmtesten Zeitungsviertels der Welt – heute gibt es dort keine Redaktion mehr und keine Druckerei.

Gleich am ersten Tag erfasse ich den Unterschied zwischen dem Geschäft bei uns zu Hause und dem Handwerk in der Fleet Street: In Deutschland führt die Geschichte den Reporter. Hier aber treiben die Reporter die Story vor sich her wie die Hundemeute den Fuchs. Die Nachrichtenkonferenz im „Mirror“-Gebäude erinnert an eine Kommandobesprechung: die Decke des Raumes niedrig, die Fenster vom Regen verdunkelt, überall Stapel von Zeitungen, wie Sandsäcke gegen Feindbeschuss.

Wensley Clarkson ist stellvertretender Nachrichtenchef, der Spieß der Reportertruppe des „Sunday Mirror“. Wohl 20 junge Männer lungern um ihn herum, Notizblöcke in der Hand, Trenchcoats auf den Knien. Alle in Anzug und Krawatte. Kaum einer älter als 30 Jahre. Keinen interessiert, was Agenturen melden oder Ministerien verkünden. Es ist Dienstag, noch fünf Tage bis zum Andruck. Wensley gibt den Marschplan aus: „Wir brauchen am Sonntag einen Splash über Princess Michael von Kent und ihren Nazi-Vater.“

Der „Splash“! Der große Tintenklecks auf der Seite eins, die exklusive Hauptschlagzeile, die keine andere Zeitung hat. Das, was jeder dieser jungen Männer will – den „Splash“ und seinen Namen drüber. Die rund 20 Millionen Leser jeden Morgen können am Kiosk noch überrascht werden. Es gibt keine Boulevard-Nachrichten im TV und kein Internet. Die Schlagzeile löst den Kaufimpuls aus.

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In der Fleet Street wurden auch Geschichten wie die um Mandy Smith (Foto re.) ausgedacht, die als 14-Jährige eine Affäre mit Bill Wyman hatte. Heute gibt es hier keine Redaktion mehr.
In der Fleet Street wurden auch Geschichten wie die um Mandy Smith (Foto re.) ausgedacht, die als 14-Jährige eine Affäre mit Bill Wyman hatte. Heute gibt es hier keine Redaktion mehr.

© Reuters

Wensley will, dass seine Reporter diese Woche Princess Michael von Kent vor sich hertreiben. Sie hat ja auch fast alles, was ein guter Splash braucht: Heirat in die königliche Familie, sie ist blond und schön und Hunnin, also Deutsche. Ihr Vater soll Nazi gewesen sein, schreiben die Tageszeitungen. Nur noch Sex fehlt, aber vielleicht hat sie ja einen Geliebten, der sie über die bösen Nazi-Gerüchte tröstet? Wensley verteilt die Aufgaben: „Sie hat einen Priester, Tony, zeig ihm das Scheckbuch – aber versuche, alles auf Tonband zu kriegen! Mike, du gehst an die Sekretärin ihres Mannes ran, sie soll einsam sein, flirte mit ihr.“ Dann zeigt er auf mich: „Das ist übrigens ein Deutscher, wir nennen ihn Ted. Ted, du bist zum Doorstepping eingeteilt.“

Doorstepping? Ich bin ratlos. Nach der Konferenz und den ersten Telefonaten hasten alle runter auf die Fleet Street. Es ist 11 Uhr 55, in fünf Minuten beginnt die erste Schicht im Pub, da darf keiner fehlen. Der Pub ist brechend voll. Da sind die Jungs von der „Mail“, vom „Express“, vom „Daily Mirror“ und vom „Star“. Ich sehe die typische Handbewegung des Fleet-Street-Mannes: ein schneller Kreis in der Luft mit gehobenem Zeige- und Mittelfinger in Richtung Barkeeper. Das soll heißen: Die nächste Runde geht auf mich! Will einer in eine Gesprächsrunde, tritt er heran und macht die Handbewegung – schon ist er drin.

Wensley hat drei Gin Tonic vor sich stehen, alle wollen mit ihm reden. „Doorstepping“, erklärt er mir, „ist einfach: Du klingelst an der Tür. Egal, wer aufmacht, du lässt dich nicht abwimmeln.“ Der erste Gin Tonic ist weg, es ist 12 Uhr 15. „Schreib auf, was derjenige sagt. Jedes Zitat kann eine Schlagzeile sein.“ Ob denn jemand mit mir reden würde, der ich ja nun für den „Sunday Mirror“ arbeite? Wensley, ganz erschrocken: „Das darfst du doch nicht sagen! Das ist doch das Gute: Du bist Deutscher. Erzähle, dass du für eine deutsche, seriöse Zeitung berichten willst, wie gemein die britische Presse ist. Vielleicht schütten sie ihr Herz aus!“ Mein Herz klopft stark, als ich vor der Stadtvilla in Kensington stehe. Mein erstes Doorstepping! Nach langen Sekunden öffnet sich die Tür einen Spalt. Das Dienstmädchen in Uniform stellt ihren Körper so, dass ich nicht reinschauen kann und guckt fragend. „Ich bin Reporter …“, rumms – die Tür ist zu.

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Abends ist die Stimmung in den Pubs anders. Erstens sind Frauen dabei, die „Page-Three-Girls“, die sich barbusig für die Seite Drei fotografieren lassen. Zweitens muss nach der zweiten Pub-Schicht keiner in die Redaktion zurück. Drittens ist jetzt der Fleet-Street-Haufen wieder komplett: Murdochs Jungs kommen aus Wapping vorbei und klagen: „Da gibt es nicht mal anständige Pubs!“ Zwei Rivalen amüsieren sich köstlich: „Unglaublich, dass du mir letzte Woche die Reifen zerstochen hast, damit ich nicht mehr hinterherkomme!“ Im Lokal „Wine Press“ gibt mir Wensley eine Flasche liebliche Liebfrauenmilch aus („Das mögt Ihr Deutschen doch“) und tadelt mich: „Du hättest den Fuß in die Tür stellen müssen! Vielleicht hätte sie so etwas gesagt wie: ,Die Madam leidet eh genug, lassen Sie uns doch in Ruhe.’ Das hätte es nicht auf die eins geschafft, aber auf die Seite sieben oder neun“, er stellt mit der Hand die Schlagzeile in die Luft: „Das Leiden der Princess Michael – ihr Dienstmädchen spricht, exklusiv im ,Sunday Mirror’.“

Am Morgen gehe ich in die Oxford Street und kaufe mir ein paar Schuhe, wie sie in der Fleet Street jeder trägt: schwere „Brogues“ aus schwarzem Leder, mit dicker Sohle und lauter Löchern als Verzierungen. Ich hatte Wensley vorher in Hamburg kennengelernt. Er war Star-Reporter und arbeitete an einem Fall, bei dem zwei britische Mädchen einen Yachteigner aus Wedel bei Hamburg in der Karibik über Bord geschmissen hatten. Seine Leiche wurde nie gefunden. Es hatte mich gleich beeindruckt, wie Wensley dem Kollegen der „Daily Mail“ im Wohnzimmer der Witwe des Kapitäns eine kurze Kopfnuss verpasst hatte, so dass aus dessen Nase das Blut spritzte. Wensleys klare Ansage: „Verschwinde, das ist meine Geschichte!“ In London ist Wensley nur anfangs der Woche gesprächig. Gegen Ende hat er seine Daumen blutig gekaut, Reporter und Tippgeber melden sich im 30-Sekunden-Takt. Es ist jetzt Donnerstag und noch kein Splash in Sicht. Da hat er eine Idee: „Ted, du versuchst dein Glück mit Mandy Smith!“ Die ganze Nation weiß, dass der 49-jährige Stones-Gitarrist Bill Wyman die 16-Jährige zur Freundin hat, aber bisher hat noch niemand mit ihr gesprochen. „Du sagst, du schreibst für eine deutsche Zeitung und… na ja, du weißt schon!“

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Mandys Mutter öffnet mir die Tür in dem Mietshaus im Norden von London. „Ich komme aus Deutschland und würde gerne mit Mandy reden.“ Sie bittet mich herein, Mandy kommt in ein Handtuch gehüllt aus der Dusche, ist gleich wachsam: „Wer sind Sie?“ – „Ich arbeite für eine deutsche Zeitung …“ – „Bitte gehen Sie!“ Ich stehe in der roten Telefonzelle, berichte in die Fleet Street. Wensely, sehr knapp: „Versuch’s noch mal.“ Ich steige wieder in schweren Schuhen die Treppe hinauf, klingele noch mal. „Verschwinden Sie!“ Wieder in der Zelle bellt Wensley mir ins Ohr: „Versuch’s noch mal!“ Diesmal die Mutter: „Hauen Sie ab, oder wir rufen die Polizei!“

An einem der Dienstage im Pub frage ich nach Wensleys Geheimnis: Wie war er an die größte Schlagzeile seiner Laufbahn gekommen, die Love-Train-Story? Lapidar berichtet er von der Bestechung eines Polizisten: „Ich habe einem Bobby Geld gegeben, der den königlichen Zug bewachte. Er steckte mir, dass Prinz Charles seine neue Freundin Diana Spencer dabeihatte und sie ein Schäferstündchen auf dem Abstellgleis planten.“ Wensley lag im Busch daneben – und hatte seinen Splash. Untersuchungsausschüsse hin, Murdoch-Desaster her: Solange die Briten ihre Zeitungen mit den roten Titeln kaufen, solange wird ein Fleet-Street-Mann fast alles tun für den Splash mit seinem Namen drüber. Vor 25 Jahren war eine Mailbox noch ein Briefkasten, Mobiltelefone gab es nicht. Hätte aber damals jemand Wensley, Tony, oder Mike die Möglichkeit gegeben, ohne Spuren in die Briefkästen von Princess Michael oder Mandy Smith zu gucken – sie hätten keine Sekunde gezögert.

Der „Sunday Mirror“, dem ich 1986 sechs Wochen erfolglos dienen durfte, hat übrigens am ersten Sonntag ohne seinen Erzrivalen „News of the World“ 730 000 Exemplare mehr verkauft. Die Fleet Street lebt.

Der Autor arbeitete unter anderem fürs „Hamburger Abendblatt“, die „Bild“-Zeitung, den „Sunday Mirror“; war auch Nachrichtenchef bei Sat1 und ist heute TV-Produzent in Dubai.

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