zum Hauptinhalt

Interview: "Helmut Schmidt war ein Rechter"

Richard David Precht über eine stramm linke Kindheit, Revoluzzer Steinmeier und die Gier der Primaten.

Richard David Precht, geboren am 8. Dezember 1964 in Solingen, schrieb mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ das erfolgreichste Sachbuch 2008. Auch „Liebe – Ein unordentliches Gefühl“ steht in den aktuellen Bestsellerlisten oben. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte arbeitete Precht einige Jahre als wissenschaftlicher Assistent an der Uni Köln. Der Journalist und Publizist hat einen Sohn aus erster Ehe und ist mit der TV-Journalistin Caroline Mart verheiratet, die drei Kinder mit in die Beziehung brachte. Tsp

Herr Precht, SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier erklärte auf dem Sonderparteitag in Berlin, Ihr Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ sei das Kursbuch für Angela Merkel und Horst Seehofer. Ein Lob war das nicht.

Die Konturlosigkeit, die er an seinen politischen Gegnern kritisiert, trifft auf ihn genauso zu. Der Diplomat Steinmeier, der die Revolutionsjacke anzieht und bei Opel-Auftritten so tut, als ob er ein Linker wäre, hat auch mehrere Identitäten.

Was hat das zu bedeuten, wenn die SPD nicht mehr Brecht, sondern Precht zitiert?

Ich glaube leider, dass die SPD ideologisch so heimatlos geworden ist, dass sie sich jedes Jahr etwas Neues sucht.

In Ihrem Film „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ kommt die Rivalität zwischen SPD und Kommunisten nicht vor.


Meine Eltern waren nicht in der DKP, aber sie hatten eine tief sitzende Verachtung für die SPD. Für mich lag „links“ jenseits der Sozialdemokratie. In meiner kindlichen Wahrnehmung war Helmut Schmidt ein Rechter.

Links zu sein war auch verbunden mit einem Heimatgefühl?

Unbedingt. Vor allem mit dem Gefühl, sich zu den moralisch Guten zählen zu können. Die Linken waren die Zukunft, die Rechten die Vergangenheit. Für mich war auch alles tabu, was aus Amerika kam. Ich habe deshalb meine Helden im Osten gesucht und als Kind die DDR viel stärker verklärt als meine Eltern.

Gibt es im Rückblick kein bisschen Zorn?

Nein. Ich hatte eine glückliche Kindheit, nur meine Pubertät war besonders finster, was auch an meiner starken Kurzsichtigkeit und meinem späten Wachstum lag. Meinen Eltern kann man vorwerfen, dass sie mich als 16-Jährigen mit einem Taschengeld von 20 DM ausgestattet haben, wovon ich mir meine Klamotten selber kaufen durfte. Und wenn ich dann nichts zum Anziehen hatte, wurden die Flohmarktkisten aufgemacht.

Ein „Schmuddelkind“, wie Franz-Josef Degenhardt sang?

Der meinte eigentlich die Proletarierkinder. Aber ein unfreiwilliges Schmuddelkind war ich schon, das stimmt. Und das ist man nicht gerne. Es gibt kein Mädchen in dem Alter, das so heroisch ist, dass es darüber hinweggucken kann.

Bleibt das Gefühl, etwas verpasst zu haben?

Ich habe ein regelrecht gestörtes Verhältnis zur Musik, weil ich in einem bestimmten Alter Entwicklungen der Popmusik nicht mitvollzogen habe. Diese Erfahrung kann man nicht nachholen. Man kann nicht mit Mitte 40 plötzlich ein rebellisches Gefühl bekommen, wenn man Bob Dylan hört.

Stört es Sie, dass der Rückblick auf 68 immer noch von ideologischen Kämpfen bestimmt ist?

Ich finde das amüsant. Am Beispiel von Karl-Heinz Kurras, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss und nun als Stasi-Agent aufgeflogen ist, kann man sehen, wie die alten Schlachten im UraltSchema von rechts und links noch einmal simuliert werden. Ein Kurras passte perfekt in die DDR und ebenso perfekt zur reaktionären Berliner Polizei. Da stellt sich die berechtigte Frage: War die DDR eigentlich links, wenn sich da Leute wie Kurras wohlgefühlt haben?

Der Film endet mit Bildern von einem Treffen Ihrer Familie beinahe idyllisch. Ist Familie ein Wert, den Sie hochschätzen?

Ja, ich lebe in einer Patchworkfamilie und sehe darin auch prinzipiell keinen Unterschied zu anderen Familien. Ich habe ein bisschen Angst vor den Ein- Kind-Familien, ich halte das nicht für artgerechte Haltung. Jedenfalls freue ich mich, dass mein Sohn drei Stiefgeschwister hat und auf diese Weise großfamiliäre Strukturen kennenlernt.

Sie fordern, dass sich die Philosophen stärker einmischen und auch Massenmedien nutzen. Was sagen eigentlich die Hochschulprofessoren dazu?

Der Ursprung der Aufklärungsphilosophie bestand in der Idee der Volksbildung. In Wirklichkeit haben sich die Philosophen längst in die Elfenbeintürme der Universitäten zurückgezogen. Die Universitäten haben auf das Buch „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ ein Jahr lang nicht reagiert, jetzt bekomme ich viele Einladungen.

Taugt das Massenmedium Fernsehen zur „Volksbildung“?

In sehr eingeschränktem Maße. Wenn man in einer Talkshow sitzt, kann man fünfmal in einer Stunde etwas sagen. Aber wir machen für das ZDF eine neue Sendung, die vermutlich im Januar startet, in der der Volksbildungscharakter eine große Rolle spielt.

Der Produzent Gero von Boehm sieht Sie als Stand-up-Philosophen.


Solche Elemente wird es am Anfang und am Ende geben. Dazwischen rede ich mit Gästen. Wir drehen in Kürze den Piloten, dann wird man sehen, was daraus wird. Sendeplatz, Sendelänge – das ist alles noch offen. Ab Herbst erkläre ich für die WDR-Sendung „Westart“ philosophische Probleme in drei Minuten. Zum Beispiel: Was ist eigentlich Freiheit, und warum hat sie auch schlechte Seiten? Oder: Macht das Besitzen von Eigentum glücklich oder nur das Erwerben?

Wo liegt Ihre Schmerzgrenze bei TV-Auftritten?

Ich gehe gerne in politische Talkshows oder in Sendungen, in denen es wirklich um philosophische Themen geht. Das Fernsehen hat einen Pool von Leuten, aus dem es schöpft, und einige gelten als Allzweckwaffe. Das scheint bei mir der Fall zu sein, aber so sehe ich mich nicht. Deswegen lehne ich zurzeit fast alle Angebote ab.

Was kann nach den Büchern über grundlegende Fragen der Philosophie und über die Liebe noch kommen?

Ich arbeite an einem Buch über Ethik, das sich auch mit konkreten Fragen der Gegenwart beschäftigt.

Dann darf das Wort Krise nicht fehlen. Was kann man zum Beispiel aus der Zoologie für die Krisenbewältigung lernen?

Wir könnten unser Primatenverhalten besser verstehen. Zum Beispiel, dass wir, moralisch gesehen, nur der Horde verpflichtet sind, in der wir uns bewegen. Das heißt: Einem Banker kann man nicht vorwerfen, dass er nicht im Interesse der Menschheit gehandelt hat, sondern man muss schlaue Regeln erfinden, die Missbrauch unmöglich machen. Es macht keinen Sinn, die Moralkeule zu schwingen. Man kann nicht Gier anprangern und zugleich mit einer Abwrackprämie die Gier auf Neuwagen schüren – das ist an Perversion kaum noch zu überbieten.

Das Interview führte Thomas Gehringer.

„Lenin kam nur bis Lüdenscheid“, ARD, 22 Uhr 45

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false