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Die „New York Times“ verschickt eine Million VR-Brillen, damit Abonnenten in Reportagen wie die von der Befreiung Falludschas vom IS eintauchen können.

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Journalismus: Hautnah dabei dank virtueller Realität

Wenn Menschen mitten im Gewehrfeuer stehen. Eine Konferenz in Potsdam zum Thema „Virtual Reality im Journalismus“.

Als auf einmal das Gewehrfeuer losbricht, gehen alle in Deckung: Die Kämpfer, die Reporter – und selbst die Menschen, die sich die Reportage der „New York Times“ über die Rückeroberung Falludschas vom IS mit Kopfhörern auf den Ohren und einer Virtual-Reality-Brille ansehen. Ein Reporter der „New York Times“ war bei der Befreiung der irakischen Stadt hautnah dabei. Die Kamera, die er verwendete, erlaubt eine komplette Rundumsicht, als säße man auf dem gepanzerten Fahrzeug. Und weil der Betrachter unter Brille und Kopfhörer von der Außenwelt abgeschirmt wird, ist das virtuelle Erleben besonders intensiv oder immersiv, wie es in der VR-Fachsprache heißt.

Nicht nur in Computerspielen, auch im Journalismus verändert die VR-Technik die Perspektiven. Die „New York Times“ verschickt im November eine Million VR-Brillen aus Pappe (sogenannte Cardboards), damit Abonnenten des Online-Angebots die Reportagen aus der neuen Perspektive sehen können. Auch die „Süddeutsche Zeitung“ experimentiert mit VR-Technik. Die Zeitung hat eine App für ihre VR-Projekte entwickeln lassen. Wie bei der „New York Times“ wird das eigene Smartphone in ein Cardboard gelegt. Nun kann man verfolgen, wie die Münchner Philharmoniker Bruckner proben oder wie Freiwillige im Mittelmeer schiffbrüchige Flüchtlinge retten.

Konferenz VR Now Con in Potsdam

Projekte wie diese gehörten zu den Themen der Konferenz VR Now Con am Mittwoch in Potsdam. Mit der Veranstaltung will der Verein Virtual Reality Berlin-Brandenburg den hiesigen Standort promoten. „Die Hauptstadtregion kann es mit den beiden größten VR-Zentren an der Westküste der USA und in China aufnehmen“, sagte Vereinsvorsitzender Stephan Schindler und verwies auf die besondere Kombination in Berlin und Brandenburg, wo eine starke Start-up-Szene auf eine traditionsreiche Film- und Medienbranche treffe. Der VR-Verein hat 45 Mitglieder, darunter Studio Babelsberg, Ufa, RBB und Special-Effects-Spezialisten wie Exozet.

Von virtueller Realität wird dann gesprochen, wenn die Nutzer in einer von Computern generierten dreidimensionalen Welt mit Personen oder Gegenständen interagieren können. Bei 360-Grad-Videos fehlt diese Interaktion. Bei der erweiterten Realität – Augmented Reality – lassen sich hingegen virtuelle Objekte auf die reale Umgebung projizieren – zum Beispiel ein neues Gebäude in ein bestehendes Stadtensemble.

Aus Pappe: Cardboards sind der preiswerteste Zugang zur virtuellen Realität.
Aus Pappe: Cardboards sind der preiswerteste Zugang zur virtuellen Realität.

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Selbst die Vereinten Nationen nutzen die neue Technik. Gabo Arora ist der Gründer des VR-Labors der UN. Der entscheidende Unterschied zu anderen Medien sei, dass die Betrachter durch VR für kurze Zeit zu Besuchern in einer Welt werden, zu der sie sonst keinen Zugang haben, sagte er in Potsdam. Ein Beispiel ist der UN-Film „Waves of Grace“. Im Mittelpunkt der VR-Dokumentation steht eine junge Frau in Westafrika, die ihre Ebola-Erkrankung überwunden hat. In einer Szene sitzt Decontee Davis am Bett eines an Ebola erkrankten Kindes und hält dessen Hand. Sie selbst muss, anders als der Helfer, der dem Kind gerade eine Spritze gibt, keine Schutzkleidung tragen. So erschreckend es ist, sich über die virtuelle Realität in diesem Zelt zu befinden, zeigen die Bilder, dass die UN-Hilfslieferungen ankommen.

Der Beobachter entscheidet, wohin er schauen will

In der virtuellen Realität mit ihrer Rundumsicht entscheidet der Betrachter selbst, wohin er schauen will. Das steigert das Gefühl, tatsächlich in die Szenerie einzutauchen. Es stellt die Macher aber vor das Problem, wie sie das Augenmerk auf die entscheidenden Stellen lenken sollen. Auch die Ufa kennt dieses Problem. Das Medienunternehmen hat beim Online-Krimi „Dina Foxx“ mit der VR-Technik experimentiert. Für jede Form der virtuellen Realität braucht es ein eigenes Story-Telling, sagt Ufa-Lab-Mann Kristian Costa-Zahn. So macht es einen großen Unterschied, ob die Handlung in der erweiterten Realität im eigenen Wohnzimmer stattfindet oder die Kamera bei 360-Grad-Videos an einer festen Stelle steht – oder sich der Betrachter in einem begehbaren Film frei bewegen kann. Für Friedrich Kirschner von der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch sind Distanz und Nähe keine Frage von Technologie. Es gebe Menschen, die wegen der schrecklichen Bilder keine Nachrichten mehr sähen. Sie bräuchten keine virtuelle Realität, um empathisch zu sein. Wer bereits jetzt die Fernsehbilder mit Distanz betrachte, dem werde dies auch bei VR-Bildern so ergehen. Ob in Potsdam oder Falludscha.

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