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Medien: Jürgen Engert im Gespräch: "Das Fernsehen ist ein Holzschnittmedium"

Jürgen Engert, 65, zählt zum Urgestein des politischen Journalismus in Deutschland. Von 1974 bis 1980 war er Chefredakteur des Berliner "Abend", den er verließ, als ein Teppichhändler, wie er sagte, das Blatt übernahm.

Jürgen Engert, 65, zählt zum Urgestein des politischen Journalismus in Deutschland. Von 1974 bis 1980 war er Chefredakteur des Berliner "Abend", den er verließ, als ein Teppichhändler, wie er sagte, das Blatt übernahm. Nach einer Übergangszeit als freier Autor wurde der Theodor-Wolff-Preisträger 1983 stellvertretender Chefredakteur Fernsehen beim SFB, später Chefredakteur. Das Polit-Magazin "Kontraste" war eng mit dem Namen Engert verbunden. Seit 1997 arbeitet der Dresdener als Gründungsdirektor des Hauptstadtstudios der ARD. Ende des Monats geht Engert in den Ruhestand.

Herr Engert, Sie waren beim "Abend", beinahe wären Sie einmal Chefredakteur des Tagesspiegel geworden. Wie sehen Sie die aktuelle Zeitungslage in der Hauptstadt?

Die Leute wollen es zwar oft nicht wahrhaben: Aber das Leben hat sich verändert. Deshalb haben sich die Menschen im Osten auch nicht in dem Maße wie von vielen im Westen erwartet der bundesdeutschen Publizistik zugewandt. Das hat wenig mit konkreter Politik zu tun. Jede Zeitung hat ihren ganz eigenen Duft. Der kann süchtig machen. Und diesen Stoff gibt man nicht gern aus der Hand.

Also ist alles beim Alten geblieben?

Meine größte Sorge war immer, dass in West-Berlin der Provinzialismus endgültig die Oberhand gewinnen würde. Wenn die deutsche Einheit nicht gekommen wäre, dann hätte sich West-Berlin eines schlechten Tages die Karten legen können.

Hätte West-Berlin nicht auch eine kleine Revolution ganz gut getan?

Sie ist ja geschehen. Ich habe immer gesagt, eine Intrige kostet in Berlin nur ein Ortsgespräch. Berlin war so schön übersichtlich. Und die Bevölkerung wollte alles, nur keine Turbulenzen. Das war verständlich nach den Krisen. So ging dann alles in West-Berlin seinen "sozialistischen Gang".

West-Berlin, Deutschlands größtes Dorf.

Unser Dorf soll schöner werden, ein altes West-Berliner Motto. Berlin hat seit jeher von Menschen gelebt, die die große Stadt gesucht haben. Also Vielfalt und Unordnung, die beiden Kennzeichen wirklich großer Städte. Das kommt wieder. Den Deutschen aber ist das Verständnis dafür verloren gegangen, was eine große Stadt bedeutet. Deshalb irritiert sie das neue Berlin.

Sie sagten einmal über die West-Berliner, sie hätten "im Herzen Rothenburg ob der Tauber, im Kopf die Weltstadt". Sind wir schon einen Schritt weiter?

Berlin ist zurzeit ein Mixtum compositum. Uraltes, Altes, Neues nebeneinander, und nichts passt zusammen. Bei den West-Berlinern wirkt Rothenburg weiter: Es war doch alles so schön idyllisch. Das bewirkt, dass sich viele aus dem Westen der Stadt nicht mehr heimisch fühlen. Wenn der Westler die Sehnsucht des Ostlers scherzhaft mit dem Kürzel VEB/KaDeWe charakterisiert hat, dann wird gern übersehen, dass das ganz ähnlich auch für den Westler galt.

Wie steht es um den Ost-West-Gegensatz in Ihrem Hauptstadtstudio?

Den gibt es nicht. Achtzig Prozent der Leute, die im Hauptstadtstudio im Bereich Technik und Produktion arbeiten, stammen aus der ehemaligen DDR. Schon bei den Einstellungsgesprächen wurde deutlich, dass diese Menschen - im übrigen hervorragende Fachleute - es nicht gelernt haben, Rhetorik als Mittel zur Selbstdarstellung zu nutzen. Exponieren war gefährlich. Ganz anders als im Westen. In dem Augenblick aber, in dem sie Zuwendung, Einfühlung spüren, öffnen sie sich. Das Ost-West-Verhältnis ist vor allem eine Frage der Mentalitäten - und Berlin ist ein Nukleus für das neue Deutschland.

Vor dem Neuen sind alle Menschen gleich.

Es erleichtert das Zusammenfinden und Zusammenleben. Das hat mit dem Genius der großen Stadt zu tun. Es ist doch kein Wunder, dass in Berlin Rechtsradikale nicht so in Erscheinung treten wie anderswo. Und es ist kein Zufall, dass im Dritten Reich viele Berliner ihnen völlig fremde Menschen versteckt haben - ohne zu wissen, wann das alles ein Ende haben wird. Bewundernswert.

Der "Bericht aus Bonn" wurde zum "Bericht aus Berlin". Großartig verändert hat sich die Sendung nicht. Wo bleibt der Hauptstadtjournalismus der ARD, den Sie bei Ihrem Amtsantritt eingefordert haben?

Der Fernseh-Journalismus ist überlagert von Prozeduren, die wir uns im Laufe von Jahrzehnten angewöhnt haben. Auch hier: Alte Mentalitäten in Konfrontation mit einem neuen Umfeld. Empfindsamkeiten für das Neue werden auch überlagert von neuen Technologien und von einem Diktat der Aktualität. Die Politik ist mehr denn je bildfixiert. Plötzlich hat jeder Hinterbänkler die Chance, gehört zu werden, hat er eine Provokation zu bieten. Und morgen wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

Also kein neuer Journalismus?

Sich auf das Neue einzulassen und es einzuordnen, erfordert Zeit. Aber im dichten Meldungsgewitter bleibt uns immer weniger Zeit. Die Nachrichten-Berichterstattung ist Schwarzbrot. Aber auf die Mischkost kommt es an. Und um die bemühen wir uns.

Das technisch modernste Medium ist das inhaltlich konservativste Medium.

Die Nachricht gibt vor. Und sie eignet sich nun mal nicht zum Fertigen von Kunstwerken. Wir wollen umfassend informieren, ohne schrecklich zu vereinfachen. Das Fernsehen ist nun einmal ein Holzschnittmedium. Das ist ein Nachteil besonders bei komplizierten Sachverhalten. Die können Sie nur mit Krücken darstellen. Das Medium ruft aber nach dem eindringlichen Bild. Deshalb kann das Fernsehen wie kein anderes Medium Personen darstellen. Es wirkt unmittelbar. Das ist sein größter und unschlagbarer Vorteil. Aber auch sein größter Nachteil gegenüber der Zeitung und dem Radio.

Also: immer weiter so?

Wir Journalisten müssen aufpassen, dass wir uns nicht so weit der Beschleunigung ausliefern, dass wir nicht mehr dazu kommen, uns zu fragen, was wir da eigentlich machen. Die Frage aber ist doch, ob ich meine Oma in Marzahn noch erreiche. Meine Sorge ist, dass eines Tages Leute kommen, die sagen, das machen wir uns ganz populistisch zu Eigen. Und die dann nicht mehr durch den ritualisierten Antifaschismus bekämpft werden können.

Journalismus neigt zum permanenten Alarmismus - ist nur ein Krisen- ein guter Tag?

Journalismus reflektiert die neue Unübersichtlichkeit nach dem Ende der bipolaren Welt. Das hat auch eine sterile Aufgeregtheit bewirkt, die zur Dramatisierung neigt. Das Beispiel Joschka Fischer zeigt das: Stürzt er oder bleibt er? Eine aufgeregte Diskussion. Da werden höchstens offene Rechnungen aus den Siebzigern beglichen, die mit dem eigentlichen Thema der Diskussion rein gar nichts zu tun haben.

Fernsehen macht sich zur Bühne für Showstars. Ist das die Zukunft?

Ich habe als Zeitungsmann angefangen und lange für Zeitungen gearbeitet. Zum Fernsehen kam ich relativ spät. Ich habe das Medium also immer mit Distanz betrachten können. Fernsehen kann Menschen dazu verführen, ihre Bildschirm-Präsenz für die ganze Miete zu halten. Alle, die diesem Irrtum erliegen, fallen ganz, ganz tief, wenn sie eines schönen Tages plötzlich wieder vom Schirm verschwunden sind.

Wenn Sie es nicht wissen, dann weiß es keiner - was kann der Journalismus?

Man soll sich nicht dem Irrtum hingeben, der Journalismus könne die Welt bewegen. Es ist schon viel gewonnen, wenn wir hin und wieder einen Pflock einschlagen können, über den nachgedacht wird. Das ist das Maximum. Denn meine Oma in Marzahn hat einen viel eigeneren Kopf als viele Journalisten meinen.

Herr Engert[beinahe w&aum], Sie waren beim \"Abend\"[beinahe w&aum]

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