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Täuschend echt. Einige Produkte, die in Haßloch vertrieben werden, gibt es bundesweit gar nicht. Hier werden sie auf Markttauglichkeit getestet.

© Maris Hubschmid

Konsumforschung: Die Vorkoster der Nation

In dem pfälzischen Dorf Haßloch stehen Zuschauer, Hörer und Leser unter besonderer Beobachtung der Konsumforscher. Wer hier seinen Fernseher einschaltet, sieht öfter andere Bilder als die Menschen in Berlin, München, Hamburg oder Köln.

Von Maris Hubschmid

Deutschlands durchschnittlichstes Dorf ist zugleich sein ungewöhnlichstes. In Haßloch in Rheinland-Pfalz ist alles auffällig unauffällig. Solide saniertes Fachwerk wechselt mit vanillegelben Einfamilienhäuschen ab, die meisten stehen dicht am Gehweg, haben ihre Gärten nach hinten raus. Auf den Straßen ist wenig los. Es gibt eine Fußgängerzone mit Schlecker und Tchibo, Reisebüro, Sparkasse, Realschule, Gymnasium. Im Herbst veranstaltet Haßloch ein Weinfest, im Winter ist Weihnachtsmarkt. Vom Bahnhof kommend hat man zu Fuß in einer halben Stunde das andere Ortsende erreicht.

Und doch leben die Haßlocher in einer anderen Welt als der Rest der Republik. Wer in Haßloch den Fernseher einschaltet, sieht öfter andere Bilder als die Menschen in Berlin, München oder Köln. Zeitung und Zeitschriften, die nach Haßloch geliefert werden, sind nicht deckungsgleich mit denen, die andere Deutsche zu lesen kriegen. Die Plakate an den Bushaltestellen wurden eigens für die 20 000 Einwohner gedruckt. Weil die Haßlocher den übrigen Deutschen ausnehmend ähnlich sind in Alter, Familienstand und Einkommen, also besonders repräsentativ für das Land, hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) das Dorf zum Testmarkt auserkoren. Namhafte Konzerne zahlen Summen im mittleren fünf- oder gar sechsstelligen Bereich, um ihre Produktneuheiten in Haßloch auf Markttauglichkeit testen zu lassen. In den Regalen der Supermärkte finden sich die apartesten Shampoos und Kaugummisorten. Was in Haßloch gefällt, wird bundesweit ein Erfolg. Wird ein neuer Artikel von den Haßlochern verschmäht, lernt ihn das Land um Haßloch nie kennen.

Unweit des Haßlocher Rathauses steht ein trister, grauer Neubau. Ein dezentes weißes Schild neben dem Klingelblock gibt Auskunft darüber, dass hier die GfK ihre Außenstelle hat. „Was immer Sie sich in Ihrer Fantasie vorstellen, hinter dieser Tür passiert es“, steht im Treppenhaus an einer orangefarben lackierten Tür. Dahinter befindet sich auf knapp zwölf Quadratmetern ein komplett ausgestattetes Fernsehstudio. Bettina Bartholomeyzik und ihr Team aus 20 Mitarbeitern speisen von hier aus Werbefilme ins Haßlocher Fernsehnetz ein.

Wenn bei RTL Pause ist mit „Wer wird Millionär?“, geht in der Haßlocher Zentrale ein GfK-Mitarbeiter an die Hebel. Eigentlich wäre jetzt ein Waschmittelwerbespot auf dem Bildschirm zu sehen. Stattdessen zeigt die GfK den Haßlochern einen Clip, in dem sich Schokolade über die Bildfläche ergießt – Werbung für einen Schokoriegel, den die GfK in Haßloch testet. Das Überblenden funktioniert übergangslos, Zuschauer merken von der Manipulation nichts. Auch bei Vox wird an diesem Abend nachgearbeitet. Anstelle eines Früchtemüslis legt die GfK den Haßlochern ein Flüssig-Make-up ans Herz. „Wir senden unsere Testspots ausschließlich im Privatfernsehen“, sagt Bartholomeyzik. Auch mit Pro 7, Sat 1, Kabel 1 und Super RTL hat die GfK Deals. Was die Sender dafür bekommen, dazu wird geschwiegen.

3400, rund die Hälfte, aller Haßlocher Haushalte nehmen am sogenannten „Haushaltspanel“ teil, sie haben sich verpflichtet, bei jedem Einkauf eine Chipkarte vorzulegen, auf der genau registriert wird, was sie wann in welchen Mengen gekauft haben. „Den Handgriff mache ich ganz automatisch, das ist wie Zähneputzen“, sagt Bettina Finco, 49, Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Die Fincos wohnen in einem lichten Haus mit viel Holz. „Wenn persönliche Informationen bei Facebook gehortet werden, das finde ich nicht okay. Aber was ich einkaufe, das kann ja auch jeder sehen, der mir in den Einkaufskorb guckt. Wir haben nichts zu verbergen“, sagt Finco. Als gläserner Konsument fühlt sie sich nicht. „Das ist überbewertet, denke ich.“

Manipuliertes Fernsehen, frisierte Magazine

Die Zeitschrift „Hörzu“, die Bettina Finco liest, wird für das Dorf in einer Sonderausgabe gedruckt. Darüber hinaus speisen täglich Konsumforscher Werbespots ins Haßlocher Fernsehnetz ein.
Die Zeitschrift „Hörzu“, die Bettina Finco liest, wird für das Dorf in einer Sonderausgabe gedruckt. Darüber hinaus speisen täglich Konsumforscher Werbespots ins Haßlocher Fernsehnetz ein.

© Maris Hubschmid

Von den 3400 Haushalten, die mit Chipkarte ausgestattet sind, empfängt nur die Hälfte manipuliertes Fernsehen. So kann die GfK zurückverfolgen, ob Konsumenten, die den Reklamespot gesehen haben, beim Einkauf eher zu dem neuen Produkt greifen als die, die den Spot nicht kennen – also: ob die Werbung wirkt.

Nach gleichem Muster werden auch Zeitschriften für Haßloch frisiert. Wer beim Test mitmacht, bekommt die Fernsehzeitschrift „Hörzu“ gratis nach Hause geliefert. Ein Teil der Aboauflage ist mit eigens entworfenen Anzeigen für Testprodukte gespickt, in den anderen Ausgaben finden sich die Standardanzeigen. Nicht alle Haßlocher, die verändertes Fernsehen empfangen, bekommen auch eine veränderte „Hörzu“ geliefert. Im GfK-Hauptsitz in Nürnberg, wohin jede Nacht die am Tag erfassten Daten übermittelt werden, wertet man so genau aus, welche Form der Werbung in Haßloch zum Erfolg, also zum Kauf geführt hat. Auch an die „Bunte“ und die regionale Tageszeitung „Rheinpfalz“ darf die GfK Hand anlegen. Frisierte Radiowerbung ist ebenfalls möglich.

All das zu koordinieren, dazu bedarf es andauernder Maßarbeit. „Wir dürfen keine x-beliebige Anzeige oder Werbesendung austauschen, nur solche von Herstellern, die schon mal mit der GfK zusammengearbeitet haben“, sagt Bartholomeyzik. Gibt es eine versteckte Klausel in jedem mit der GfK geschlossenen Vertrag? Dazu äußert sich die Standortleiterin nicht. Auch zu der Frage, welche Neuentwicklungen derzeit im Dorf getestet werden, darf sie nichts sagen. Ein paar Namen von bereits etablierten Produkten, die in Haßloch ihren Anfang genommen haben, gibt sie aber preis: Der Keksriegel „Pick up“ von Leibniz, Wrigley’s „Extra“ zahnfreundlicher Kaugummi und die Seifenreihe „Dove“ verdankt Deutschland der Gunst der Haßlocher.

Bettina Finco ist in Haßloch aufgewachsen, auch ihre Eltern waren von Anfang an beim Großversuch dabei. Seit 1986 sind die Haßlocher die Vorkoster der Nation. Regelmäßig gibt es Verlosungen unter allen Teilnehmern. Reisen, Einkaufsgutscheine, Haushaltsgeräte. Gewonnen haben die Fincos noch nichts.

Ob ihr denn im Supermarkt auffalle, was dort in den Regalen neu ist? „Da achte ich nicht drauf. Ich bemerke eher, wenn plötzlich etwas fehlt.“ Einmal hat sie ein Deodorant für sich entdeckt, das von einem auf den anderen Tag nicht mehr da war. Ein halbes Jahr lang beobachtet die GfK den Absatz eines Testprodukts. Dann ist der Versuch beendet, das Produkt verschwindet wieder aus den Regalen.

Sehr aufmerksam verfolgt hingegen die Konkurrenz, was sich in Haßlochs Regalen tut. Dass die meisten großen Konzerne ab und an einen Mitarbeiter nach Haßloch schicken, gilt als offenes Geheimnis.

Wohl jeden auswärtigen Otto Normalverbraucher, der nach Haßloch kommt, packt am Ortseingang der Ehrgeiz, die Testprodukte im Laden als solche zu erkennen. Bis auf Aldi, das keinerlei Verkaufszahlen analysiert wissen will, machen alle großen Ketten im Ort mit. Gab es diese Limonade, die da bei Penny beworben wird, schon immer? Schwer zu sagen. Die erstandenen Pfefferminzpastillen erweisen sich als Fehltipp. Die liegen auch im Kiosk am Berliner Hauptbahnhof neben der Kasse. Auch Schleckers Shampooregal überfordert den Laien. Tatsächlich ist es das Süßigkeitensegment, bei dem das Auge auf Anhieb den Fremdkörper erkennt. Ein populärer Pausen- snack in XXL-Variante wandert als Mitbringsel in den Koffer. Auch die edel verpackten Pralinen einer traditionsreichen Schokoladenfirma haben jetzt gesteigerte Chancen, die Haßloch-Prüfung zu bestehen.

Obwohl der Haßlocher Test nicht billig ist, kann er den Auftraggebern viele Millionen Euro sparen. Ein Produktlaunch ist mit sehr großem finanziellen Aufwand verbunden. Und 70 bis 80 Prozent aller Waren, die neu auf den Markt kommen, ohne Haßloch durchlaufen zu haben, werden vom Konsumenten nicht angenommen und binnen eines Jahres wieder eingestampft.

Das ist darum ein echtes Erfolgsmodell. Über mangelnde Aufträge muss die GfK sich trotz Wirtschaftskrise nicht beklagen. „Wir können aber nur eine gewisse Anzahl an Produkten zeitgleich testen“, sagt Bartholomeyzik. Ob sie die „Truman-Show“ gesehen habe? Bartholomeyzik lächelt wissend. Bettina Finco kennt den Film nicht.

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