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Medien: Lulas Werbeparadies

Brasiliens TV zeigt täglich 100 Minuten Wahlspots

Es wäre vielleicht die Rettung für Angela Merkel angesichts des Umfragetiefs ihrer Regierung, und auch Kurt Beck dürfte nicht abgeneigt sein: Täglich kostenlose Werbung für die eigene Partei auf allen frei empfangbaren TV-Sendern gleichzeitig. Und das nicht nur für die üblichen neunzig Sekunden, sondern mit bis zu zehn Minuten Sendezeit am Stück.

Was in Deutschland Politiker begeistern dürfte, ist im brasilianischen Wahlkampf Realität. Seit Mitte August liefern sich Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und sein konservativer Herausforderer Geraldo Alckmin mit ihren Werbespots eine heftige Auseinandersetzung um den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag. Insgesamt 100 kostenlose TV-Minuten stehen den Parteien täglich von montags bis samstags zur Verfügung: Drei Tage pro Woche dürfen Präsidentschafts- und Parlamentskandidaten ran, drei Tage die Bewerber um die Gouverneursposten.

Dieses politische Werbeparadies gibt es im brasilianischen Fernsehen bereits seit 1962, die Militärregierung schränkte die Kandidatenpräsentation 1976 allerdings erheblich ein – nur ein Foto und einige Basisinformationen waren erlaubt. Erst seit der Rückkehr zur Demokratie in den 1980ern können die Parteien ihre Werbezeit weitgehend frei gestalten.

Den aufwändig inszenierten Spots kann der brasilianische Zuschauer nicht entgehen: Von 13 Uhr bis 13 Uhr 50 und von 20 Uhr 30 bis 21 Uhr 20 verdrängen Lula und Co. die beliebten Telenovelas von ihren Sendeplätzen, selbst die Nachrichten müssen weichen. Vom Marktführer Globo TV bis zum Lokalsender bekommt der Zuschauer in diesem Zeitraum nur Parteienwerbung zu sehen.

Die Dauer der Spots richtet sich nach den Stimmanteilen, die die einzelnen Parteien bei den Parlamentswahlen 2002 gewonnen haben. Lulas Arbeiterpartei PT und die rechte PSDB seines Kontrahenten Alckmin, die bei den Wahlen 2002 mit 18 Prozent (PT) und 14 Prozent (PSDB) sehr gut abschnitten, wissen diesen Vorteil zu nutzen: Präsident Lula präsentiert sich seinen Wählern etwa sieben Minuten pro Ausstrahlung im TV. Gegner Alckmin kann sogar noch drei Minuten drauflegen, weil andere konservative Parteien Werbezeit an ihn abgetreten haben.

Doch was den 125 Millionen Wahlberechtigten da ins Haus flimmert, hat mit konkreter Politik nur wenig zutun: Es ist vielmehr Selbstbeweihräucherung in Vollendung. Ob Amtsinhaber Lula TV-Bilder seiner jüngsten Rede bei den Vereinten Nationen einblenden lässt, oder ob Herausforderer Alckmin bei Verhandlungen mit aufständischen Gefängnisinsassen gezeigt wird – der politische Inhalt ihrer Dauerwerbesendungen tendiert gegen Null. Mit Freude werfen beide Kandidaten der jeweils anderen Partei auch Korruption und Skandale vor, nur um gleich darauf die eigene weiße Weste zu betonen. Bei aller Einseitigkeit: Die Spots der Präsidentschaftsanwärter sind professionelle Werbefilme, zudem werden sie laufend verändert, um auf Angriffe aus dem anderen Lager zu reagieren.

Lächerlich wird es dagegen, wenn nach Lula und Alckmin auch die Kandidaten für ein Abgeordnetenmandat zur permanenten Politikberieselung beitragen dürfen: Mal fröhlich lächelnd, mal grimmig dreinblickend, bleiben sie meist stumm, wenn ihr Name und die dazugehörige Partei auf dem Bildschirm erscheinen – ihnen steht sowenig Zeit zur Verfügung, dass sie oft nicht mal einen Satz an ihre Wählerschaft richten können. Wenn sie doch etwas sagen, sprechen sie oft so schnell, dass man sie kaum versteht. Dabei überbieten sie sich in abstrusen Forderungen: Einer will die Rente um das Achtfache erhöhen, ein anderer die Nationalhymne ändern.

Die Bedeutung der Wahlwerbung in Brasilien ist jedoch nicht zu unterschätzen. Für Carlos Ranulfo, Politik-Professor an der Universität Minas Gerais, tragen die Gratis-Spots wesentlich zur Meinungsbildung bei: „Sie sind sehr wichtig, da sich die Bevölkerung fast ausschließlich übers Fernsehen informiert.“ Nur acht Prozent der Brasilianer greifen regelmäßig zur Zeitung. Einen Fernseher besitzen dagegen 94 Prozent der brasilianischen Haushalte, sowohl in der Luxusvilla als auch in der Favela-Hütte steht ein TV-Gerät. Und der Apparat läuft fast immer.

Dennis Kremer[Belo Horizonte]

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