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Auch der Streamingdienst Spotify nutzt Algorithmen

© dpa

Macht der Algorithmen: Die Suche nach dem perfekten Mixtape

Wir suchen und kaufen Musik öfter im Netz als im Laden. Die Datenspur, die wir dabei hinterlassen, will die Branche nutzen.

An seine erste Platte erinnert sich Conrad Fritzsch auch heute noch, Jahrzehnte später. Die Beatles, wundervolles Artwork, ein Kleinod, seine Hände streicheln durch die Luft vor sich, als er davon erzählt. Fritzsch sitzt in einem weißen Konferenzraum in einem Altbau in Prenzlauer Berg. Hier ist das Büro von tape.tv, dem Berliner Musik-Internetfernsehsender, den Fritzsch aufgebaut hat. Auf einem riesigen Flatscreen an der Wand laufen einige der 70 000 Musikvideos aus dem Angebot stumm ab. Eine Masse, die unvorstellbar war, damals zu Beatles-Zeiten.

Die Digitalisierung hat den Musikmarkt schwer gebeutelt, heißt es immer wieder. Keiner kauft mehr, niemand stöbert mehr durch analoge CD-Regale, weil man als Hörer heutzutage Musik nicht mehr besitzen muss, um sie hören zu können. Sie ist online verfügbar auf Soundcloud, per Klick abrufbereit bei großen Streamingdiensten wie Spotify oder eben auch tape.tv. Laut einer Bitkom-Studie von 2014 hören 18 Millionen Nutzer Audioangebote im Netz, dreimal mehr als noch ein Jahr zuvor.

Weil viele Hörer Musik heute auf digitalen Kanälen suchen, hören und doch auch immer noch kaufen, ist auch eine andere Währung bedeutsam geworden im Musikgeschäft: Daten. Jeder produziert sie, wenn er über Apples iTunes-Laden ein Lied kauft, sich durch das Streamingangebot von Spotify klickt oder auf Soundcloud das neueste Lied seiner Lieblingsband abspielt. Dass die Hörer im Netz Spuren hinterlassen, macht sich die Musikbranche zunutze. Sie kann auf einen nie dagewesenen Datenpool zugreifen, der viel verrät über das Verhalten und die Vorlieben der Hörer.

Jeder explizite Klick ist wichtig

Weil dabei eine Unmenge an Daten zusammenkommt, braucht es Technik um den vielen Einzelinformationen Sinn zu geben, sie zu ordnen. Viele Anbieter setzen heute auf Algorithmen, um die Hörer bei der Stange zu halten. Das Ziel: Den Nutzer nicht mit einem unüberschaubaren Angebot alleine lassen, viel Spaß beim Suchen. Sondern Vorschläge machen, die sich so gut anhören, dass man noch eine Weile weiterhört.

„Alle Nutzeraktionen auf tape.tv werden getrackt, damit wir besser verstehen, was der Nutzer hören will“, sagt Fritzsch von tape.tv. „Jeder explizite Klick ist für uns wichtig – sei es, dass der Kunde ein Video in sozialen Netzwerken teilt oder eben wegklickt, weil es ihm nicht gefällt.“ So lernt tape.tv immer mehr über den Musikgeschmack der eingeloggten Nutzer und passt sein zukünftiges Musikangebot an.

Wer tape.tv für das aktuelle Lied von Taylor Swift ansteuert, hört als nächsten Interpreten-Vorschlag nicht Motörhead oder Metallica. Einfach ein weiteres Musikvideo der amerikanischen Sängerin abzuspielen wäre aber auch zu simpel. Der Algorithmus bietet eher einen ähnlichen Pop-Song an, vielleicht von One Direction, Cody Simpson oder Lorde. „Gute Unterhaltung heißt für mich: Wir liefern. Deine Musik findet dich, du musst nicht danach suchen“, so Fritzsch. Seine Plattform hat monatlich zwei Millionen Unique User, die im Durchschnitt zehn Minuten auf der Seite verweilen. 13 Programmierer hat Fritzsch beschäftigt und drei Musikredakteure. Und nicht nur das Verhalten auf der Plattform selbst ist relevant für die Frage, welches Musikvideo man als nächstes vorgesetzt bekommt. Wer sich über die App einloggt und der Datenfreigabe zustimmt, dessen Musikeinkäufe auf iTunes werden ebenso ins Musik-Profiling einbezogen. So funktioniert Musikhören heute.

„Es gibt so viele Regeln, die kann ein Redakteur gar nicht im Kopf haben."

Auch tape.tv-Konkurrent Vevo will seine Nutzer per Algorithmus neue Musik entdecken lassen, sagt Programming-Managerin Kristin Michalek. „Wir haben algorithmenbasierte Playlists, die sich auch während des Hörens aktualisieren, je nach dem, was der Nutzer anhört und als Suchbegriff eingegeben hat.“ Nicht nur netzbasierte Streaming-Dienste und Musik-Start-Ups setzen auf Algorithmen. Auch wer sein Radio anschaltet, hört Musik, bei deren Auswahl wahrscheinlich ein Computer mitgeholfen hat.

Aditya Sharma ist Musikchef beim RBB-Radiosender Fritz. Wie viele andere Stationen auch setze Fritz auf die Musikplanungssoftware MusicMaster, so Sharma. Das Programm durchsucht alle vorhandenen Musiktitel und schlägt gemäß der gewünschten Parameter der Redaktion eine Musikliste vor. Die sei dann die Grundlage, auf der Redakteure noch händisch Änderungen vornähmen. „Es gibt so viele Regeln, die kann ein Redakteur gar nicht im Kopf haben. Es dürfen nie zwei Titel eines Genres hintereinander gespielt werden, Titel dürfen nicht zu oft in einer Woche gespielt werden, und manche Titel passen nicht ins Morgenprogramm und dürfen nur am Abend gespielt werden“, sagte Sharma über die Vorteile des Programms, das letztlich ja auch auf die einprogrammierten Wünsche der Redaktion hin sein Ergebnis erarbeite. Trotz des technischen Helfers: Sharma ist überzeugt, dass man dem Fritz-Programm anhört, dass Menschen die Listen noch anpassen. „Der Mensch kommt ins Spiel, wenn es um den Musikfluss geht. Das kann ein Algorithmus noch nicht. Das zeichnet uns gegenüber Streamingdiensten aus.“ Wenn er selbst Streams höre, reiße ihn ein allzu spezieller Vorschlag oft aus dem Hörfluss. „Der Mensch kann die Mischung aus Neuem und Vertrautem immer noch am besten.“

"Heute ist das Magische verloren gegangen.“

Über Daten und Technologie dem Hörer näherzukommen, diese Entwicklung finden auch viele Künstler spannend. Der Berliner Musiker Carsten Aermes zum Beispiel, Künstlername PHON.O. Seit 1997 ist er in der Berliner DJ-Szene unterwegs. Er beschreibt seine Musik als Mischung aus UK-Sound und Techno und gewann beim Berliner Music Hack Day 2014 den ersten Preis. Aermes präsentierte mit einem Team aus Programmierern einen Prototypen, der die Bewegungen von Konzertbesuchern in Echtzeit analysiert und als Animation auf Leinwände hinter dem Mischpult wirft. „Ich will die Zuschauer damit ins Konzert einbinden. Jedes Smartphone hat einen Bewegungssensor, der Daten generieren kann, wie stark sich jemand bewegt.“ Dass Musik immer öfter technikgesteuert ausgesucht wird, sieht Musiker Aermes kritisch. „Es wird alles vorhersehbar durch diese Datensammelei, der Mensch ist komplizierter. Wenn du früher einen guten Mix hattest, hat sich das rumgesprochen, da wurden Tapes rumgereicht. Heute ist das Magische verloren gegangen.“

Auch tape.tv-Gründer Fritzsch sieht Grenzen beim Einsatz von Technik. „Der Algorithmus ist nur die halbe Miete. Er löst viel, aber es braucht auch Musikauswahl durch Menschen.“ tape.tv setzt in einer neuen Version verstärkt auf persönlich zusammengestellte Musiklisten, wie man sie von Diensten wie Spotify kennt. Die „Tapes“ können von Musikredakteuren kommen oder den Nutzern, und sind öffentlich verfügbar für andere Nutzer. Menschliche Kuration nennt Fritzsch das.

Der menschliche Musikgeschmack wird immer unberechenbar bleiben, sagt der Musiker Aermes. „Wenn alles bis ins Detail durch Algorithmen perfektioniert worden ist, dann werden die Hörer wieder das zu schätzen lernen, was Fehler hat und nicht ganz so glatt ist. Menschlich eben.“

Angela Gruber

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