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Ins Bild gesetzt. Die Wendung „an den Rollstuhl gefesselt“ suggeriert, dass der Fahrer des Rollstuhls hilflos ist, und legt ihm sprachlich Fesseln an.

© Leidmedien

Menschen mit Behinderung: Auf Augenhöhe

Opfer? Die „Leidmedien“ sprechen anders über Menschen mit Behinderung. Oft behindert aber erst die Sprache Menschen und raubt ihnen die Selbstständigkeit.

Herausfordernd blickt der Mann mit den zum Zopf gebundenen Haaren und der Nickelbrille in die Kamera. Ein Seil ist mehrfach um seinen Körper gewunden, das ihn an den Sitz eines Rollstuhls fesselt. Dieses Bild gehört zu den eindrücklichsten Beispielen des Projekts „Leidmedien“, das sich der Aufklärung von Journalisten und Unternehmen über den Umgang mit Sprache und Behinderung widmet. Denn dieses Bild ist, wenn auch unbewusst, mit dem Ausdruck gemeint, jemand sei „an den Rollstuhl gefesselt“ – eine ziemlich unglückliche Metapher, denn das macht den Rollstuhlfahrer, der in der Regel gemeint ist, zum hilflosen Opfer.

Die Mitarbeiter der Leidmedien wollen deshalb Schluss machen mit solchen Floskeln. Ihr Appell an die Medienmacher lautet: Bitte keine Formulierungen mehr à la „trotz ihrer Behinderung meistert sie tapfer ihr Schicksal“. Ein ebenfalls viel verwendetes Beispiel unterstellt den Protagonisten, sie würden an einer bestimmten Behinderung „leiden“ – ohne dass sich der Autor überhaupt die Frage stellt, ob der andere tatsächlich leidet oder nicht sogar im Einklang mit seiner Behinderung lebt.

Die Journalistin Lili Masuhr gehört zu den Gründern der Leidmedien und leitet das Projekt, das zum Netzwerk Sozialhelden e.V. gehört. Sie sagt: „Es geht darum, dass Sprache auch Bewusstsein schafft. Wie wir reden, so nehmen wir die Anderen auch wahr.“ Dabei gehe es ihr nicht vornehmlich um die Kritik an einzelnen Begriffen. „Sondern um eine ganze Haltung zu den Menschen.“ Die 29-Jährige sammelt Beispiele in den Medien und diskutiert auf der Webseite oder auf Facebook mit anderen Interessierten über die Darstellung.

Der Klassiker: Schwimmen trotz Handicap

Behinderte Menschen werden häufig zu Opfern stilisiert – oder wahlweise zu Helden, die, wie es heißt, „trotz“ einer Behinderung ihren Interessen nachgehen. So kritisiert einer der Leser des Facebook-Auftritts von Leidmedien etwa einen Zeitungsbericht mit dem Titel „Schwimmen trotz Handicap mit Franziska van Almsick“. Lili Masuhr: „Der Klassiker: Schwimmen MIT anstatt TROTZ wäre schon mal ein Anfang.“

Außerdem leitet Lili Masuhr Workshops für Journalisten und Unternehmen zum Thema Sprache und Behinderung. Begonnen hat das Projekt 2012, als die Gründer der Leidmedien einige Tipps für Journalisten zur Berichterstattung über die Paralympics erstellten.

Zuvor hatte Raul Krauthausen, Gründer des Netzwerks Sozialhelden, selbst erfahren, wie es ist, wenn die Behinderung ins Zentrum der Berichterstattung rückt: Bis heute gibt es reichlich Medieninteresse an seinen Projekten wie dem Portal wheelmap.org, mit dem sich per Internet rollstuhlgerechte Orte finden lassen. „Wenn darüber berichtet wurde, stand immer die Behinderung von Raul im Vordergrund“, erinnert sich Lili Masuhr. „So nach dem Motto: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, und dennoch hat er dieses Projekt gemacht.“

Bildsprache spielt eine entscheidende Rolle

Dem Bild des hilfsbedürftigen Rollstuhlfahrers wollten die Sozialhelden entgegentreten. Zentral ist dabei auch der Gedanke: Die Behinderung wird nicht nur durch den Körper verursacht. Oft ist es gerade das Umfeld, das den Menschen behindert und ihm die Selbstständigkeit raubt. Besonders deutlich wird das für Lili Masuhr etwa an der Berichterstattung über Menschen mit Trisomie21, dem Down-Syndrom. „Sie werden in Berichten meistens als Sorgenkinder oder Schützlinge bezeichnet“, erzählt Lili Masuhr. „Außerdem werden sie oft nur mit Vornamen angesprochen, obwohl sie längst erwachsen sind.“

In ihren Workshops möchte sie bei den Teilnehmern die Sensibilität wecken, ihren Gesprächspartnern auf Augenhöhe zu begegnen. Auch die Bildsprache spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn es darum gehe, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen, dann gelte das auch für Bildaufnahmen, so Masuhr. Ein kleinwüchsiger Mensch oder ein Mensch im Rollstuhl etwa solle auf Augenhöhe fotografiert werden – buchstäblich. „Das macht in der Wirkung einen gewaltigen Unterschied im Vergleich zu Bildern, die von oben herab aufgenommen worden sind.“

Ein anderer Aspekt des Umgangs mit Behinderung und Sprache betrifft den Auftritt von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen etwa im Internet oder in Broschüren. Hier werden oft Menschen ausgeschlossen, die beispielsweise eine Lernschwäche haben und komplexe Texte nicht verstehen können – sei es beim Internetauftritt einer Behörde, beim Abschluss eines Handyvertrags oder beim Lesen einer Bedienungsanleitung. Zu diesem Zweck setzen sich Organisationen wie die Sozialhelden dafür ein, dass solche Texte auch in „Leichter Sprache“ verfasst werden.

Immerhin gehört der barrierefreie Zugang zu Informationen auch zur Inklusion. In Leichter Sprache bestehen Sätze in der Regel aus nicht mehr als acht Wörtern, möglichst ohne Nebensätze, ohne Passiv, Konjunktiv und ohne Fremd- und Fachwörter.

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