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Mittelalter-Maniacs: Danke, liebe Wanderhure

Warum wir uns mit Fernsehen ins Fell der Geschichte kuscheln.

Schönes, neues Mittelalter. Sat 1 hat mit dem Historienepos „Die Säulen der Erde“ am Montagabend einen glänzenden Start hingelegt. 8,10 Millionen Zuschauer sahen die erste Episode des Vierteilers. Das schließt nahtlos an die „Wanderhure“ an, Anfang Oktober schauten 9,87 Millionen Zuschauer den Film mit Alexandra Neldel in der Hauptrolle. Beide Produktionen bieten keine Filmkunst, beide bilden getreulich Buch-Vorlagen – Ken Follett und Iny Lorentz – ab, die Dramaturgie ist viel schlichter als in jedem Bundesligaspiel. Da tritt Mannschaft A gegen Mannschaft B an, die Zuschauer sind aufs Äußerste gespannt – weil schon Sepp Herberger wusste: „Die Leute gehen ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Beim Mittelalter-Fernsehen wissen alle, wie ausgeht: Die Guten gewinnen gegen die Bösen. Bis zum Finale wird ordentlich gemordet, gelitten und gevögelt, die Emotionen sind pur. Allein, das Resultat steht fest. Was selbst der Fußballweise Sepp Herberger nicht wusste: Dieses Fernseh- Spiel dauert garantiert länger als 90 Minuten, die Werbepausen übertreffen jede Spielpause.

Was in der Fernsehfiktion klappt, klappt auch in der Fernsehdokumentation. Die neue Staffel der ZDF-Reihe „Die Deutschen“ am Sonntag konnte eine Quote von knapp 5,2 Millionen Zuschauern einfahren. Auch hier stand eine Figur des Mittelalters im Mittelpunkt: Karl der Große. Personalisierte Geschichte ist in beiden Fällen, Fiktion wie Dokumentation, überschaubare, begreifbare Geschichte. Und alles liegt in der Vergangenheit. Dieses „Es war einmal …“ ist so sehr viel beruhigender als jenes „Es wird einmal sein …“ Es scheint, als wollte die grassierende Deutschen-Angst sich Gewissheiten im Vergangenen suchen. Die Rückschau ist ungefährlich, vorbei ist vorbei; zugleich werden Antworten mitgeliefert, warum die Historie zu dieser Gegenwart, zu dieser Gesellschaft geronnen ist.

Das ist mehr als Kuscheln im Fell der Geschichte. Je größer der Schauder, desto wohliger die Befriedigung über die gar nicht so schlechte Gegenwart. Nur die Zukunft, die bleibt unheimlich. Unheimlich und unbeschrieben und unbebildert.

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