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Medien: Mönchsklause wird zum Gulag: Arte-Essay über russische Straflager

Name, Alter und Strafdauer müssen die jungen Männer, die zum Haftantritt in einem der heutigen russischen Straflager eingetroffen sind, herunterrasseln, bevor man ihnen befiehlt, mit gesenktem Kopf und den Händen auf dem Rücken weg zu marschieren in die Einsamkeit, die für sie nun Alltag werden wird. Die meisten von ihnen, so erzählen sie, sind aus existenzieller Not zu Dieben und Betrügern geworden oder am Leben verzweifelt und haben im Affekt Straftaten begangen.

Name, Alter und Strafdauer müssen die jungen Männer, die zum Haftantritt in einem der heutigen russischen Straflager eingetroffen sind, herunterrasseln, bevor man ihnen befiehlt, mit gesenktem Kopf und den Händen auf dem Rücken weg zu marschieren in die Einsamkeit, die für sie nun Alltag werden wird. Die meisten von ihnen, so erzählen sie, sind aus existenzieller Not zu Dieben und Betrügern geworden oder am Leben verzweifelt und haben im Affekt Straftaten begangen. Mafia sei hier selten, deren Mitglieder hätten Methoden, um ihrer Strafe zu entgehen.

Es sind Burschen mit harten, kantigen Zügen, zu denen die Unterwürfigkeit gar nicht passen will, halbe Kinder zum Teil, die über ihr Schicksal erschrocken wirken und doch erscheint einem die sanfte Wehmut, mit der sie sich in das Unvermeidliche schicken, als typisch russischer Wesenszug. Doch kennt das übrige Europa die "russische Seele" wirklich?

Iossif Pasternak und Hélène Châtelaine, die Autoren des zweiteiligen Dokumentarfilms "Der Gulag" (erster Teil, Arte, 22 Uhr 10, zweiter Teil am kommenden Freitag) stellen das Zitat eines westlichen Chronisten an den Anfang, der das Russen-Bild des übrigen Europa stets "von Mitleid" verstellt sah. Das "ewige Rätsel" des russischen Menschen sei nie ergründet worden. Der Film fasst das Phänomen der russischen Straflager nicht in eine Chronologie, in der, wie üblich, Emphase und Beschreibung des Schreckens im Vordergrund stehen. Es ist die - gewagte - bisweilen zu lyrisch geratene Psychologisierung einer nationalen, "utopistisch" geprägten Mentalität, die den "Gulag" zu einer Art pervertiertem Kulturmodell erhoben habe.

Seine Urzelle, sagen die Autoren, sei die Mönchsklause. Hinter Klostermauern auf den Solowki-Inseln, einer späteren Hochburg des orthodoxen Glaubens, habe sich das erste Kollektiv asketisch gegen die Welt abgeschottet. Die später daraus entstandenen Straflager der verschiedenen Epochen, die Solschenizyn zu seinem bekannten Roman inspirierten, halten die Autoren für daraus abgeleitete gesellschaftspolitische Modelle, die als Versuchslabor für die Utopien dienten, die sich politisch nicht durchsetzen ließen. Der Mensch, den die Ideologie vergeblich zu erziehen suchte, durfte als Krimineller nach Belieben gebrochen werden. Bis zu 40 Prozent der russischen Bevölkerung saß in den Lagern ein. Die russische Revolution erscheint so als Schimäre. Ihre Ideale wurden dem Volk in Umerziehungslagern eingebleut.

Michael Burucker

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