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Medien: Nebenbei statt mittendrin

Warum die Deutschen immer mehr Fernseher haben, aber weniger hinschauen

John Slater hat einen Trick gefunden: Wenn Rugby im Fernsehen läuft und er in verschiedenen Räumen im Haus arbeiten muss, verpasst er trotzdem keine Szene. „Dann schalte ich auf allen drei Fernsehern in meiner Wohnung dasselbe Programm ein“, sagt der 64-jährige Brite. In Großbritannien sind drei TV-Geräte pro Haushalt durchaus üblich. Eine Studie des Unternehmens CACI hat sogar durchschnittlich 4,7 Fernseher in britischen Häusern ausgemacht. In Deutschland geht es hingegen bescheidener zu. Man muss schon die Panorama-Suite des „Esplanade“-Hotels in Berlin buchen, um vier Fernseher zu bekommen: in beiden Schlafzimmern, einen Plasmabildschirm im Wohnzimmer, einen weiteren im Schrank des Badezimmers.

Was steckt hinter dem Trend zum Mehrfach-Fernseher? Schon 1974 stand bei fast genauso vielen Familien ein Fernseher im Haus wie heute. Was sich in den vergangenen 30 Jahren stark verändert hat, ist die mediale Zusatzausstattung. Nur in zwölf Prozent der deutschen Wohnungen gab es 1974 einen zweiten Fernseher. Heute hat den schon fast die Hälfte der Haushalte. In elf Prozent stehen sogar drei Fernseher und mehr. Und dazu kommen DVD-Player und Videorekorder, Computer mit einer TV-Karte und MP3-Player (Zahlen siehe Grafik).

Wissenschaftler fragen für die Langzeitstudie Massenkommunikation von ARD und ZDF seit mehr als vier Jahrzehnten, wie Massenmedien genutzt und bewertet werden. Elektronische Geräte wie DVD-Player, die heute zur Standardausstattung gehören, konnten vor zehn Jahren noch gar nicht abgefragt werden. Der Wandel in der Unterhaltungselektronik verläuft rasant. Ein Vorteil der neuen digitalen Geräte ist, dass sie den Medienkonsum unabhängig von Ort und Zeit machen. Wir brauchen den Fernseher nicht mehr, um zu einem festen Zeitpunkt unsere Lieblingssendungen zu sehen, sondern mehr als Hintergrundbeschallung, die die Wohnung in eine Lounge verwandelt. Der DVD-Rekorder nimmt Sendungen auf und gibt sie zeitversetzt wieder. Mit dem MP3-Player können Radiosendungen als Podcast beim Joggen gehört werden. Der Laptop mit DVB-T-Karte erfüllt den Traum vom Überall-Fernsehen am Badesee und auf dem Balkon – zumindest solange der Akku hält.

Generell gilt: Der Fernsehkonsum hat sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt. 1974 saß der Deutsche durchschnittlich 125 Minuten vor dem Fernseher. Im vergangenen Jahr waren es 220 Minuten, mehr als dreieinhalb Stunden. Alle Medien zusammengenommen beschäftigen uns zehn Stunden am Tag. „Die enorme Expansion des TV-Programmangebots seit den 90er Jahren ist ein Grund dafür, dass die Menschen heute mehr fernsehen als früher. Auch haben in einer älter werdenden Gesellschaft mit weniger Erwerbstätigen mehr Menschen als früher mehr Zeit für den Medienkonsum", sagt Christa-Maria Ridder, Leiterin der ARD/ZDF-Projektgruppe Massenkommunikation.

Mehr Geräte, mehr Elektronik, mehr Nutzung – trotzdem werden Fernsehen und Radio immer mehr zum Nebenbei-Medium. 45 Minuten pro Tag nutzt der Deutsche gleichzeitig verschiedene Medien. 81 Minuten widmen wir Mahlzeiten und Körperpflege, während wir Fernsehen gucken, Radio hören oder Zeitung lesen. Für Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski ist „TV pur“ bald passé. „Die TV-Konsumenten wollen passiv unterhalten und berieselt werden, während sie ihren Gedanken oder anderen Beschäftigungen nachgehen.“ Noch ist das Fernsehen das Leitmedium der Deutschen. Befragt, welches Medium sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden, antworteten 44 Prozent, sie wollten den Fernseher einpacken. 16 Prozent würden sich für das Internet entscheiden.

Die Visionäre der Unterhaltungsindustrie sind bereit für den nächsten Schritt: das „Fernsehen auf dem Handy“, soll zur Fußball-WM verfügbar sein. Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Vor Olympia 2000 in Sydney kauften Australier 45 Prozent mehr Fernseher. Laut Gesellschaft für Konsumforschung verkaufen sich in europäischen Ländern die TV-Geräte desto besser, je erfolgreicher die Fußball-Nationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft ist. 1974 waren die neuen Farbfernseher in Deutschland der Renner. 2006 sind Flachbildschirme ein Verkaufsschlager. Wenn dann im Juni die WM endlich losgeht, dürften in Millionen deutschen Haushalten in mehreren Zimmern Fernseher gleichzeitig laufen, wie bei John Slater in England.

Dorothee Schmidt

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