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Netzkolumne: Googelo, ergo sum

Der Schriftsteller Torsten Körner verliert sein Ich im Netz und findet niemanden, der ihn sucht.

Auf meine Haut kann ich mich schon lange nicht mehr verlassen. Sie hält meinen Ich-Flohzirkus nicht mehr zusammen. Gut, dass es Google gibt, die Anwältin meiner Sub- und Objektivität, meine Such- und Fundmaschine. Morgens, kaum bin ich aufgestanden, fange ich an, verlegte Körperteile zusammenzusuchen. Google hilft. Hier ein Zeh, da ein Arm. Auf der Straße treffe ich einen alten Bekannten. „Du hast dich kein bisschen verändert!“ sagt er. Ich widerlege ihn, weise ihm mit Google nach, wie sehr sich meine Persönlichkeit allein in den letzten 24 Stunden verändert hat. Er erbleicht! Ha! Bin wieder viele!

Dann lege ich mich auf die Couch meines Therapeuten. Wer hat mich hierhergeschickt? Ich frage Google. Ja, richtig, meine Frau. „Du bist ja abhängig, du Google-Junkie“, hat sie gesagt; nach einer anderen Version, die ich ebenfalls unter den ersten 24 Treffern finde, hat sie behauptet, „Du bist krank, du googelst Dich um den Verstand, du hast keinen inneren Halt mehr, du narzisstischer Ego-Googler.“ Ich halte dieses Zitat für fragwürdig. Es klingt zu echt.

Mein Psychotherapeut ist ein weiser Mann. Er schaut bei Google, warum ich zu ihm komme und welche Fortschritte wir machen. Hinreichend analysiert betrete ich eine schummrige Spelunke, wo sich antiquierte Menschen aufhalten. Bibliotheksmenschen, lichtscheues Gesindel. Zu ihnen gehört mein alter Freund Wunsiedel. Tägliche Onlineverweildauer zwei Minuten. Als ich mein Bier bei Google bestellen will, macht er mich auf ein pausbäckiges Analog-Girl aufmerksam, das mich anstarrt. „Sorry, ein Bier!“ Mein Freund doziert gerne. In seiner Gegenwart darf ich nicht auf meinen Tablet-PC schauen. „Die Menschen“, sagt er, „haben kein Gedächtnis mehr. Menschen, die früher gigantische Archive im Kopf mit sich herumtrugen, neigen heute dazu, ihr Wissen spontan, oberflächlich und schnell zu organisieren. Früher wurde studiert, heute wird gegoogelt.“ Ich kündige diesem Digital-Phobiker meine Freundschaft. Derart weinerliches Gewäsch will ich mir nicht länger antun. Auf Google lasse ich nichts kommen. Als ich nach Hause komme, ist die Wohnung leer. Meine Frau hat mich verlassen. Auf dem Tisch ein Zettel. „Wenn Du wissen willst, warum ich gegangen bin, frag Deine neue Freundin.“ Zum Glück steht mein Laptop auf dem Schreibtisch. Ich bin drin. Es wird dunkel. Von außen sieht man jetzt einen Mann, dessen Gesicht bläulich widerscheint.

24 Tage später. Das Telefon klingelt bei Kommissar Müller. „Tach, Referat 9, Vermisste, Abgängige und Entführte. Müller am Apparat!“ „Hier Wunsiedel, ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.“ „Wer fehlt?“ „Ein Freund, von Google entführt!“ „Selbstversunkene suchen wir nicht! Tach!“

Der Autor ist Schriftsteller und Journalist.

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