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Medien: Noch kein Sex, Lügen, Videos

Mit ihrem Web-Tagebuch wurde „Lonelygirl15“ zum Star der Videobörse YouTube. Jetzt entpuppt sie sich als Kunstfigur – die Bloggerszene verliert ihre Unschuld

Glaube, Liebe und Betrug – es ist der Stoff, aus dem die großen menschlichen Dramen sind. Eine Millionengemeinde hatte an die Authentizität von Lonelygirl15 geglaubt, hatte ihre Videobeichten seit Monaten voll Mitgefühl verfolgt. Und umso bitterer ist nun die Enttäuschung, betrogen worden zu sein.

Wer glauben wollte, hatte in ihr einen Beleg für die Überlegenheit des neuen Mediums gefunden, der Internet-Videobörse YouTube, die angeblich viel authentischer und demokratischer ist als die von finsteren Mächten oder schnödem Mammon regierten herkömmlichen TV- und Videoprogramme. Bei YouTube kann jeder sein privates Video ins Netz stellen, und jeder kann sich dort bedienen, also sein eigener Programmdirektor sein. Lonelygirl15 war (angeblich) „Bree“, die Tochter streng religiöser Eltern in den USA, die daheim erzogen und auch unterrichtet wird – eine Eigenheit des amerikanischen Bildungssystems. Sie vertraute ihre geheimsten Gedanken einem Videotagebuch an und stellte es ins Netz. Hatte man so etwas je auf herkömmlichen Sendern gesehen? Na also, das war nur bei YouTube möglich.

Nun stellt sich heraus: Die ganze Geschichte war gestellt, erfunden. Das Drehbuch hatten sich Ramesh Flinders, ein 26 Jahre junger Drehbuchautor aus Kalifornien, und Miles Beckett (28), der von Arzt auf Filmemacher umgesattelt hatte, ausgedacht. Sie wollten mit der Serie das große Geld verdienen. Für die Rolle der „Bree“ hatten sie eine Schauspielerin engagiert, die 20-jährige Jessica Rose, die leicht als 15-Jährige durchgeht und teils in Los Angeles, teils in Neuseeland lebt. Gefilmt wurde mit einer Web-Camera für 150 Dollar in Flinders Wohnung, alles sah dort nach Teenager-Zimmer aus.

In der Tat ist so etwas nur bei YouTube möglich. Die Werbefassade der Internet-Videobörse – wir sind hoch demokratisch, jeder kann anbieten, es gibt keine Zensur – hat eine Schattenseite: Es gibt keine Kontrolle, was bei YouTube Lüge, was Wahrheit ist. Diesen Mehrwert bieten nur die herkömmlichen Medien, jedenfalls die seriösen. Der Umgang mit dem Internet verlangt nicht weniger, sondern mehr Quellenkritik.

Doch schon basteln unbeirrte YouTube-Anhänger an einer neuen Legende: Die Aufdeckung des Betrugs zeige erst recht die Überlegenheit des neuen Mediums: bei den Kräften zur Selbstkorrektur. Lonelygirl15-Fans haben die Täter ausfindig gemacht – per Internet! – und überführt. Matt Foremski, der 18-jährige Sohn eines Internet-Reporters, ging dem Verdacht nach, ob das Gesicht von „Bree“ einer Schauspielerin gehöre. Er wurde fündig, dank der Internet-Suchmaschine Google stieß er auf Jessica Rose. Nun reden sich die Macher damit heraus, sie hätten „eine sehr realistische, fiktionale Geschichte über das neue Medium verbreiten“ wollen.

Es sieht eher nach geplantem Betrug aus – alle Beteiligten hatten Stillschweige-Klauseln bei einem Rechtsanwalt unterschreiben müssen. Die Ehefrau des Rechtsanwalts, Mitarbeiterin einer Künstleragentur in Beverly Hills, hatte auch schon versucht, „Lonelygirl15“ als geschütztes Markenzeichen zu sichern. Seit ein paar Wochen wurde die geheimnisvolle Daheimschülerin Bree gezielt promotet. YouTube, angeblich die nicht gewinngetriebene Bastion gegen die geldgierigen großen Medienkonzerne, ist selbst von Geschäftemachern unterwandert. Wen wundert’s wirklich?

Die Fangemeinde reagiert mit widerstreitenden Gefühlen, von „Mein Herz ist gebrochen“ bis zu „Cool, was für eine wunderschöne Frau, die mich da reingelegt hat!“ Vielleicht geht es bei Videos gar nicht so sehr um Wahrheit, sondern um die Suche nach Erfüllung unstillbarer Sehnsüchte.

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