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Medien: „O mein Gott, ich will hier raus“

Als Bewerber unterwegs bei Deutschlands größter Castingshow. Ein Erfahrungsbericht

Spätestens jetzt bereue ich es. Hunderte Jugendliche stehen vor dem Hotel in Dresden , in dem das Casting stattfinden soll. Ich mitten unter ihnen, um mich herum aufgeregtes Gemurmel. Ich komme mit den Mädchen hinter mir ins Gespräch. Immerhin: Von Konkurrenzdenken ist in der Warteschlange noch keine Spur. Im Aufenthaltsraum erproben einige schon mal ihre Stimme. Sofort stürzt ein Kamerateam hin. Bei einer Bewerberin wirkt zumindest die Pose superstarverdächtig: Gedankenversunken kniet sie auf dem Boden, die Augen geschlossen. Von der anderen Seite dringen zärtliche Töne an mein Ohr: Jemand probt ein Liebeslied. Ich selbst singe lieber nicht so laut. Muss ja nicht gleich jeder hören, was ich so fabriziere. Böse Blicke gibt es auch hier keine. Im Gegenteil: Die Mädchen vor mir scheinen sich schon angefreundet zu haben. Jungs sind komischerweise kaum da. Wollen die etwa keine Superstars werden?

Mein Herz macht inzwischen jedem Schlagzeug Konkurrenz. Vier Leute sitzen in der Jury, eine Fernsehkamera – und Millionen vor den Bildschirmen. O mein Gott, ich will hier raus. In meinem Rucksack taste ich nach meiner Triangel und einem orangenfarbenen Buntstift, etwas Besseres, um sie anzuschlagen, ist mir nicht eingefallen. Nervosität: Mache ich mich vollkommen zum Affen, wenn ich damit vor die Jury trete? Gut möglich.Was soll’s!

Ich werde in einen der vier Aufzeichnungsräume geführt. Dort ist ein schwarzes Quadrat auf den Boden gemalt, auf das ich mich stellen soll. Scheinwerfer strahlen mir ins Gesicht, so dass ich kaum etwas erkennen kann außer der Kamera, die genau auf mich gerichtet ist. Ich schlucke noch mal … jetzt geht’s los. „Sing, mei Sachse, sing“, trällere ich in feinstem Sächsisch. Dazu schlage ich den Takt auf der Triangel. Die Jury, bestehend aus RTL-Musikredakteuren, strengt sich an, ein Pokerface zu behalten; Dieter Bohlen und Co. bekommen die Teilnehmer erst in der nächsten Runde zu Gesicht.

Der Kameramann gibt sich nicht solche Mühe, seine Laune zu verbergen. Er grinst wie ein Kind, das eben seine Weihnachtsgeschenke bekommen hat. Das macht mich noch nervöser. Mitten in der ersten Strophe vergesse ich den Text. Dabei habe ich das in den Tagen vor dem Casting wieder und wieder geübt – sehr zum Leidwesen meiner Nachbarn.

Als ich fertig bin, lässt sich die Jury immer noch keine Reaktion anmerken: „Schick doch bitte den Nächsten rein.“ Ich verlasse den Raum und vergesse auch nicht meine Triangel. Endlich habe ich es hinter mir. Im Aufenthaltsraum wartet ein junger Mann auf seine Freundin. Er ist nur zur Begleitung da und darf sie deshalb nicht vor die Jury begleiten. Als irgendwann alle fertig sind, betritt ein Mann das Zimmer, der bisher nicht in Augenschein getreten ist. Auf einmal wird es ganz still. „Drei von euch sind in der nächsten Runde“, sagt er. Dann liest er die Namen vor. Ich bin nicht enttäuscht. Wenigstens hatte ich viel Spaß. Und ganz bestimmt komme ich auch ins Fernsehen – wer singt schon ein sächsisches Volkslied beim „DSDS“-Casting und spielt dazu Triangel?

Der Autor, 17, arbeitet als freier Journalist und Fotograf.

Karsten Breitig

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