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Männerüberschuss. Wie hier beim Wikimania Hackathon in Washington sind es vor allem Männer, die sich bei der Online-Enzyklopädie engagieren. Jetzt sollen Frauen zum Mitmachen motiviert werden. Auch Köche, Friseure und Handwerker sind unterrepräsentiert. Foto: AFP

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Online-Enzyklopädie Wikipedia: Weibliche Wikis gesucht

Fast 90 Prozent der Artikel auf Wikipedia werden von Männern geschrieben. Wikimedia Deutschland will deshalb mehr Frauen zum Mitmachen motivieren.

Wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit steht es da, das Regal mit den zum Teil schon leicht vergilbten Buchrücken: Antiquarische Ausgaben verschiedener Lexika wie der Encyclopaedia Britannica oder Meyers Neues Lexikon, die früher, bevor Jimmy Wales 2001 Wikipedia ins Netz stellte, in keinem gut sortierten Haushalt fehlen durften. Hier, im Büro des Vereins Wikimedia Deutschland in der Obentrautstraße 72 in Berlin-Kreuzberg, wirken sie wie die in Vergessenheit geratenen Trophäen eines erfolgreichen Beutezugs, die Reste eines fetten Mahls im Magen des Riesen.

Wikimedia Deutschland bezeichnet sich als „internationale Bewegung, die den freien Zugang zu Wissen als ein grundsätzliches Recht des Menschen auf Bildung versteht“. Der Verein betreut zahlreiche Projekte, das bekannteste sind die deutschen Seiten der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Er kümmert sich um die Spendenaufrufe, die jedes Jahr zwischen November und Dezember auf die Wikipedia-Seite gestellt werden, um ihre Verwaltung und Verteilung, pflegt die Software, organisiert Veranstaltungen und informiert Presse und Öffentlichkeit.

Das neue Projekt heißt Wikidata

Mittlerweile gibt es in fast allen Ländern der Welt Wikimedia-Dependancen, manche bestehen aus zwei, drei Ehrenamtlichen, andere beschäftigen mehrere festangestellte Mitarbeiter. Das deutsche Büro hat mit 35 festangestellten und einer schwankenden Zahl von freien die mit Abstand meisten Mitarbeiter weltweit, wie Geschäftsführer Pavel Richter stolz erklärt. Und vermutlich auch das größte Büro: 700 lichtdurchflutete Quadratmeter mit verschiedenen Räumen und Abteilungen, in denen zum Teil kreative Unordnung herrscht: Die Tische sind mit Computern, Laptops und Telefonen vollgestellt, die Wände mit bunten Zetteln, Tabellen, Skizzen und großformatigen Schaubildern übersät.

„Bis vor eineinhalb Jahren saßen wir in einer 190-Quadratmeter-Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg“, erzählt Richter. „Dann haben uns die Kollegen in San Francisco gefragt, ob wir nicht ein neues Projekt übernehmen könnten, weil sie die Ressourcen nicht haben und wir so gut entwickelt seien. Dafür mussten wir 12 neue Leute einstellen, und dafür waren die Schöneberger Räumlichkeiten zu klein.“

Das neue Projekt heißt Wikidata. „Es ist das erste neue Wikipedia-Projekt seit 2006“, erklärt Richter, „und auch das erste, das von einer lokalen Organisation umgesetzt wird.“ Wikidata soll dafür sorgen, dass Daten oder Namen, sobald sie sich ändern, nur einmal zentral in der Datenbank eingegeben werden müssen und sich dann automatisch auf allen Wikipedia-Seiten, auf denen dieses Datum oder dieser Name auftauchen, in allen 280 Sprachen aktualisieren. Bisher mussten derlei Änderungen – zum Beispiel nach Wahlen die Namen neuer Präsidenten oder wenn eine bekannte Persönlichkeit gestorben war – einzeln per Hand in jeder Landessprache und auf allen Seiten, die diese Information trugen, eingegeben werden. Die neue Datenbank soll nun dafür sorgen, Aktualisierungen zu synchronisieren und die Einträge dadurch auch zuverlässiger zu machen. Eine Sisyphusarbeit, denn zuerst einmal muss die Datenbank mit Millionen von Daten gefüttert werden. Mittlerweile wird das Wikidata-Team dabei von einer wachsenden Community aus über 3000 Aktiven unterstützt, irgendwann wird die Datenbank der Community dann komplett überlassen. „Der Anteil von Wikimedia Deutschland beschränkt sich darauf, die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen“, erklärt Richter. „Wir versuchen hier zu wiederholen, was mit der Wikipedia hervorragend geklappt hat: Wir programmieren die Datenbank, pflegen sie, kümmern uns um den technischen Support – wie sie gefüllt wird, wie sie genutzt wird, ist dann die Entscheidung der ehrenamtlichen Community.“

Fast 90 Prozent der Artikeln werden von Männern geschrieben

Ein weiteres Projekt, das Richter am Herzen liegt, ist die Erforschung der Frage, warum es so wenig weibliche Wikipedianer gibt. „Fast 90 Prozent der Artikel werden von Männern geschrieben“, sagt er, „das ist ein Problem.“ Er glaubt, dass dadurch die weibliche Perspektive in Wikipedia zu kurz komme und vieles zu einseitig aus männlicher Sicht dargestellt werde. In Kooperation mit der Berliner Beuth-Hochschule soll dem Rätsel jetzt auf den Grund gegangen und nach Lösungen gesucht werden. Auch einzelne Berufsgruppen wie Handwerker, Köche oder Friseure sind aus der Sicht von Pavel Richter zu wenig aktiv, „da geht unheimlich viel Wissen verloren“, glaubt er.

Ganz aktuell gibt es eine Zusammenarbeit mit dem ZDF-Nachrichtenportal heute.de, das mithilfe der Netzgemeinde untersucht hat, was Politiker im Bundestagswahlkampf in Interviews, Talkshows, Tweets und Reden sagen. Auf www.ZDFcheck.de sind die Ergebnisse zu sehen. Zudem unterstützt Wikimedia Deutschland unter anderem seine Ehrenamtlichen mit Bibliotheksausweisen und Redaktionstreffen, stellt Datenbänke zur Verfügung und vergibt den alljährlichen Zedler-Preis für freies Wissen.

Trotz nicht unerheblicher Kosten muss sich Richter um die Finanzierung seines Vereins offenbar nicht sorgen: In den vergangenen Jahren hat sich das Spendenaufkommen jeweils verdoppelt. 2012 spendeten 220 000 Personen insgesamt 5,2 Millionen Euro, weltweit waren es im selben Zeitraum 32 Millionen US-Dollar. Dafür gibt es auch große Pläne: langfristig will Wikimedia Deutschland in ein eigenes Haus ziehen, in ein „Haus des Wissens“, wo es viel Platz für Projektpartner, Treffen, Veranstaltungen und die vielen Wikipedianer gibt, die gern mal vorbeikommen.

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