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Opposition in Russland: Raus aus den Blogs, raus auf die Straße

Noch wird der Protest gegen die russische Parlamentswahl im Netz organisiert. Doch das Regime lernt dazu - und bläst zum Angriff auf die Freiheit im Netz.

Im Oktober 1917 blies Lenin zum Sturm auf das Winterpalais. In der Gegenwart, bei einer Großdemonstration in Moskau vor einer Woche, blies der erste Redner, der Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow, zum Sturm auf die Foren. „Wie ihr schon gemerkt habt, funktioniert das Internet nicht mehr. Weil das Regime Angst davor hat, dass die Wahrheit über diese Demo ins Netz gelangt?“, rief er den zehntausenden Demonstranten im Zentrum Moskaus zu. „Deshalb nehmt alles auf, was hier passiert und stellt es heute Abend ins Internet“, polterte er.

Solange die Seiten der Opposition nicht funktionierten, sollten die Demonstranten die Videos einfach in den Foren der Regierungspartei posten. Ein paar Minuten später gab es wieder Empfang und die Demonstranten twitterten, stellten Videos und Bilder ins Netz, und böse Zungen behaupteten später, dass die Menschen sich mehr für ihre iPhones als für die Reden von der Bühne interessiert hätten. Ist Russland auf dem Weg, die in Ägypten uraufgeführte Twitter-Revolution zu wiederholen?

In Russland hat sich eine starke Internet-Community gebildet. Das Umfrageinstitut FOM zählte Anfang 2011 50 Millionen Russen über 18 Jahren, die mindestens einmal wöchentlich ins Internet gehen, das sind etwa 42 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich zu 2007, als zuletzt Parlamentswahlen stattfanden, hat sich die Anzahl der Nutzer verdoppelt. Während Wladimir Putin im letzten Jahrzehnt nach und nach die großen Medien auf Staatslinie brachte, entwickelte sich das Internet zur Gegenöffentlichkeit, mit einer Bloggerszene, die eine weitaus größere Rolle als in Deutschland spielt: Die Blog-Plattform Livejournal hat fünf Millionen Nutzer, populäre Blogger werden täglich von über 70.000 Menschen gelesen.

Gleichzeitig fungierte das Internet aber auch als Blitzableiter: Die Aktivität der russischen Community beschränkte sich auf das Bloggen und das Kommentieren fremder Blogs – und hatte kaum Auswirkungen auf die Wirklichkeit. Mit den Parlamentswahlen vom 4. Dezember, bei der es laut Wahlbeobachtern zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten kam, hat sich das geändert: Innerhalb von Stunden machten Belege für Wahlfälschungen die Runde, am folgenden Wochenende gingen die Menschen russlandweit auf die Straße, in Moskau um die 40.000. Zu der größten Demonstration seit Anfang der 90er Jahre hatten sich die Teilnehmer auf Vkontakte, Facebook und Twitter verabredet.

Der Staat bemüht sich, die Proteste einzudämmen. Die Internet-Seiten unabhängiger Medien, besonders das Livejournal, wurden mit Hacker-Attacken gestört, Twitter-Accounts wurden mit automatisch generierten Botschaften bombardiert. Laut dem Geheimdienstexperten Andrej Soldatow führt diese Attacken nicht der Inlandsgeheimdienst FSB aus, sondern „patriotische Hacker“, die in Verbindung mit dem Kreml stehen. Allerdings war es jener FSB, der in der Woche nach den Wahlen Pawel Durow, Besitzer von Vkontakte, dazu aufforderte, oppositionelle Gruppen zu sperren, was dieser verweigerte. Dafür knöpft sich der Geheimdienst die Moderatoren der Gruppen vor: In mehreren Städten verschwanden Protestgruppen im Netzwerk nur Stunden nach der Gründung wieder. Wie das geht, erzählt eine 18-Jährige, die in der Stadt Kaluga, südwestlich von Moskau, eine Protestgruppe angemeldet hatte: „Zwei Männer in Zivil holten mich vor der Universität ab und zwangen mich, eine Erklärung zu unterschreiben, dass ich die Seite schließen würde.“

Im benachbarten Weißrussland ist die Internet-Zensur schon Wirklichkeit: Im Februar 2010 schuf Diktator Alexander Lukaschenko die rechtliche Grundlage dafür. In Russland existiert offiziell keine Zensur, aber wenige Tage nach den Wahlen ließ ein Interview in der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ in der Online-Community die Alarmglocken schrillen: Da schlug ein hoher Beamter des Innenministeriums vor, die Anonymität im Internet abzuschaffen. „Wenn du ein ehrlicher, gesetzestreuer Mensch bist, warum solltest Du Dich verstecken?“, erklärte Generalmajor Alexej Moschkow, dessen Abteilung gegen Internetkriminalität kämpft. In den sozialen Netzwerken sieht Moschkow eine potentielle Bedrohung für die „Grundpfeiler der Gesellschaft“, hier würden sich extremistische Gruppen organisieren und ihre Aktionen koordinieren.

Derweil organisiert sich im Internet die nächste Demo: Anfang der Woche verfolgten russlandweit Tausende die Sitzung des Organisationskomitees für die Versammlung am 24. Dezember, auf Facebook und Vkontakte haben sich schon knapp 30.000 Menschen angemeldet.

Die Versuche des Kremls, auf dem Terrain der Gegner Boden gutzumachen, schlagen derweil fehl. Am Montag registrierten Mitglieder der Partei die Seite „Einiges Russland für ehrliche Wahlen“ auf Facebook, innerhalb der ersten 48 Stunden fand die Gruppe jedoch nur 272 Mitglieder. Noch härter traf es Dmitri Medwedew. Der Präsident hatte sich im Gegensatz zu Putin in den vergangenen Jahren immer wieder als Freund der russischen Blogosphäre präsentiert.

Er bediente Twitter, Facebook und Vkontakte und führte einen eigenen Videoblog. Seit er aber im September bekannt gab, Wladimir Putin den Kreml wieder zu überlassen, fühlt sich die Community betrogen. Als er am Dienstag als einzige offizielle Reaktion mit wenigen lakonischen Sätzen die Großdemonstration vom Wochenende auf seiner Facebook-Seite kommentierte, erhielt er innerhalb weniger Stunden über 10.000 wütende Kommentare.

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