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Print goes online: Links im Netz

„Das Blättchen“, ein Nachfolger der „Weltbühne“, sucht online seine Zukunft

„Aber die ‚Weltbühne’ hat diesen Übergang gut überstanden, und ich verlasse die Redaktion in dem Bewusstsein, ‚das Blättchen’, wie S. J. so gern sagte, unversehrt durch ein paar Jahre getragen zu haben.“ Schrieb „Weltbühnen“-Herausgeber Carl von Ossietzky im Mai 1932. Ein Jahr später saß er im Konzentrationslager und die legendäre Zeitschrift der Weimarer Republik gab es nicht mehr. Es folgten Wiedergeburten und Grablegungen. Die letzte Grablegung fand am 28. September 2009 statt, die vorerst letzte Wiedergeburt Anfang der Woche. Im Netz.

Kein Mensch denkt, weil er dafür bezahlt wird. Auch Descartes mit seinem Cogito ergo sum hatte wohl nicht recht. Sum ergo cogito, ich bin, also denke ich, wäre viel treffender. Natürlich gilt das nicht für alle. Selbst in den großen Medien wird seit Jahren immer weniger gedacht – war das nicht die perfekte Marktlücke? Die Wiederbelebungsidee der „Weltbühne“ entstand 1997 parallel in Ost und West, der Nachfolger West heißt „Ossietzky“, der Nachfolger Ost „Das Blättchen“.

Letzteres hatte sich den redaktionsinternen Kosenamen der „Weltbühne“ gegeben, nachdem der Erbe des „Weltbühne“Begründers Siegfried Jacobsohn 1993 die alten Namensrechte für sich beansprucht hatte. Ob er sie tatsächlich besaß, wurde nie geklärt. Aber wie gut passte der neue alte, zärtlich-realistische Titel! Da war doch noch nie eine Bühne gewesen, auf der man triumphal erscheinen konnte, schon gar nicht vor der Welt; da war nicht einmal ein Blatt, nur eben, ja, ein „Blättchen“, dünner noch als das dünnste Schulheft, außen rot. Zwei Konkurrenten im gleichen alten Layout warben fortan um die gleiche – alte? – Zielgruppe.

Natürlich mischten sich in beiden Autoren aus Ost und West und der Welt, aber vielleicht verriet die Namenswahl Ost dennoch eine gewisse Resteigenart: noch immer ein wenig verhaltener, poetischer, philosophischer auch.

Nach zwölf Jahren „freudvollen Tuns“ gab der „Weltbühnen“-Nachfolger „Das Blättchen“ im vergangenen Herbst auf. Er hatte am Ende noch knapp 600 Abonnenten und eine doppelt so große Anzahl von Kioskkäufern – zu wenig selbst für ein Organ, das von Anfang an die konsequente Unternehmensstrategie der Selbstausbeutung verfolgt hatte. Schon zur alten „Weltbühne“ war niemand zum Geldverdienen gegangen, Kurt Tucholsky erst recht nicht. Keine Partei, kein Anzeigenkunde, kein Interesse, nicht einmal das, möglichst viele Leser zu gewinnen, standen hinter ihr: welche Freiheit! Geist, Witz, Ironie, vorurteilsfreier Gedanke – damals schienen sie allesamt links zu sein. Heute glaubt das so leicht keiner mehr. Und gibt es denn etwas Schauerlicheres als linke Ironie? Ironie geht ins Offene, sie hört auf keine Weltformel. Das „Blättchen“ und viele seiner Autoren, oft Ostintellektuelle, wissen das.

Seit Montag steht nun das erste Online-„Blättchen“ im Netz: www.das-blaettchen.de, herausgegeben vom Freundeskreis der „Weltbühne“, redaktionell betreut von Wolfgang Sabath. Während sich der erste „Ossietzky“ des neuen Jahres hauptsächlich mit dem Thema Krieg befasst, geht es hier um „Fünf Jahre Hartz IV“, „Hundert Tage Westerwelle“ oder den „Bürger als Aktionär“ – oft leichter im Ton und doch grundsätzlicher, von weiter her blickend als ein gewöhnlicher politischer Kommentar, nur selten aufgesetzt polemisch.

Ganz am Ende steht, zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht, Tucholskys Nachlassverzeichnis. So viel Hausrat, und er deckte doch nicht die Kosten seines Ablebens. Man kann nichts mitnehmen. Das „Blättchen“ lässt auf dem Weg ins Netz nur seinen roten Umschlag zurück. Vielleicht ist es keine Wiedergeburt, sondern einfach, wie Ossietzky sagte, ein Übergang.

www.das-blaettchen.de

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