zum Hauptinhalt
Der Spiegel

© - Foto: ddp

Printmarkt: Die Zitronenhändler

Große Unruhe auf dem Schweizer Printmarkt: "Spiegel“ mit Beilage, Springer kauft TV-Programmies und ein Gratisblatt hat die meisten Leser.

Steht die Schweiz kopf? Seit Montag dringt mit dem „Spiegel“, der erstmalig mit einer 50-seitigen „Regional“-Beilage im Nachbarland erschienen ist, ein weiteres deutsches Mediengroßunternehmen auf den kleinen, aber offenbar lukrativen Printmarkt des Nachbarlandes vor. Der Zeitpunkt könnte kaum günstiger sein: Mit dem Nachrichtenmagazin „Facts“ und mit der Wirtschaftswochenzeitung „Cash“ sind soeben die beiden unmittelbarsten Konkurrenten für die norddeutschen Invasoren eingestellt worden.

Aber auch sonst ist die Schweizer Medienlandschaft so sehr in Bewegung, dass der Verleger der „Basler Zeitung“, Matthias Hagemann, ein „Erdbeben der Stärke 12“ diagnostiziert: Die Tamedia, die mit dem „Tages-Anzeiger“ Zürichs auflagenstärkste Abozeitung und mit „20 Minuten“ das größte Gratisblatt der Schweiz herausgibt, hat Ende Mai die Espace-Gruppe übernommen – und damit die beiden Hauptstadtblätter „Berner Zeitung“ und „Bund“. Kurz darauf hat das Verlagshaus Ringier seine TV-Zeitschriften an Springer und Bauer verkauft. Vor dem Deal hatte pikanterweise das Ringier-Boulevardblatt „Blick“ noch in einer Kampagne Schweizer Urängste vor deutscher Überfremdung mobilisiert.

Im Großraum Zürich führen darüber hinaus die beiden örtlichen Rivalen, die Verlagshäuser der „Neuen Zürcher Zeitung“ und die Tamedia eine erbitterte Schlacht um die letzten noch konzernunabhängigen Lokalblätter, die sie eins ums andere ihren Imperien einverleiben oder mit eigenen Regionalausgaben bekriegen. Seitdem die „NZZ“ durch schwindelerregend sinkende Umsätze unsanft aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wurde, hat die neue Redaktionsleitung das Blatt außerdem behutsam modernisiert und offenbar auch begriffen, dass es seine Stammleserschaft nicht allein mit erstklassiger internationaler Berichterstattung halten kann.

Analytisch betrachtet, überlagern sich sind zwei Trends. Zum einen wird die Schweiz von einem überfälligen Konzentrationsschub heimgesucht, bei dem eben auch ausländische Investoren ihre Schnäppchen machen. Während es in Berlin ja schon als einzigartige Zeitungsvielfalt gewertet wird, dass für die 3,4 Millionen Menschen in ihrer Stadt neun Tageszeitungen erscheinen, werden für knapp 4,8 Millionen Deutschschweizer noch täglich Dutzende Titel gedruckt.

Zum anderen sinkt offenbar die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten für Zeitungen und Zeitschriften. Im überbesetzten Segment qualitativ hochwertiger Print-Produkte ist deshalb ein mörderischer Überlebenskampf im Gange. „Cash“ und „Facts“ sind die ersten Opfer, aber auch bei anderen Qualitätsblättern und bei vielen Regionalzeitungen bröckeln die Auflagen und wandert ein Teil des Anzeigengeschäfts auf Nimmerwiedersehen ins Internet ab.

Geradezu kometenhaft ist dagegen das Gratisblatt „20 Minuten“ zur am weitesten verbreiteten Zeitung im Lande aufgestiegen. Letzten Freitag wurde die Auflage auf täglich 550 000 Exemplare hochgefahren – der bisherige Rekord. Weil in diesem untersten Marktsegment viel Geld verdient wird – allein in der Deutschschweiz werden dort rund 120 Millionen Franken an Werbegeldern umgesetzt – haben sich bereits Nachahmer gefunden. Mit dem Mittagsblatt „heute“ und mit der Gratis-Wirtschaftszeitung „Cashdaily“ buhlen überregional bereits zwei Wettbewerber um die Gunst und Aufmerksamkeit der Leser. Sacha Wigdorovits, heute PR-Berater und der einstige Projektleiter, der „20 minuten“ auf den Weg brachte, steht mit einer weiteren Gratis-Tageszeitung in den Startlöchern: Geplant ist mit „.ch.“ ein Blatt, das mit mehreren Hunderttausend Auflage zu 70 Prozent per Hauszustellung an Mann und Frau gebracht werden soll. Ob dies gelingt, muss sich noch erweisen. Bislang basiert der Erfolg von Gratiszeitungen auch darauf, dass sie sozusagen „just in time“ an die Pendlerströme verteilt werden, wenn es ein paar Minuten Fahrzeit zu überbrücken gilt.

Auch bei der Tamedia wird an einem zusätzlichen Gratisblatt gearbeitet. Zwar ist die Werbebranche diesem Markt erkennbar zugetan, aber ob es für zwei oder gar drei weitere Titel reicht, ist dennoch zweifelhaft. Kurt W. Zimmermann, Kolumnist der „Weltwoche“ und früherer Tamedia-Manager, meint, es gehe auf Medienmärkten zu wie beim Boxen: „Der Herausforderer hat es schwer, der amtierende Titelverteidiger hat deutlich bessere Chancen.“ Außerdem besteht die Gefahr, dass die großen Verlage mit der Schwemme an Gratisprodukten ihre eigenen höherwertigen Printmedien kannibalisieren.

Doch warum geben sich so viele Menschen mit minderwertiger Information zufrieden? Ein Teil des Medienmarktes funktioniert fraglos wie ein „Markt für Zitronen“. Damit hat der US-Ökonom George A. Akerlof Märkte umschrieben, auf denen Käufer wenig über die Produktqualität wissen und deshalb auch der Qualitätswettbewerb nicht funktioniert. Auf solch einem Markt werden gerne Güter relativ schlechter Qualität angeboten, eben die sogenannten „Zitronen“. Sobald die Käufer dies realisieren, sind sie ihrerseits nur noch bereit, einen niedrigeren Preis zu entrichten – oder im Fall der Gratiszeitungen eben allein mit ihrer Lesezeit zu „bezahlen“. Dadurch aber verringert sich für Anbieter teurerer, hoher Qualität der Anreiz, für solch einen Markt zu produzieren. Allmählich setzt sich so in einer Spiralbewegung die schlechte Qualität durch und verdrängt die gute vom Markt.

Überraschend ist – zumindest auf den ersten Blick –, dass ausgerechnet ein Land wie die Schweiz, das auch im Bereich der Medien eher für solide Hochpreisprodukte steht, zum Vorreiter von Gratiszeitungen wurde. Die Erklärung hierfür ist einfach: Während in Deutschland ein Abwehrkartell der großen Verlage Gratisblätter abgeblockt hat, hat sich der aggressivste Player auf dem Deutschschweizer Markt, die Tamedia, das Marktsegment selbst besetzt und in atemberaubendem Tempo ausgebaut.

Es sieht so aus, als würde die kleinteilige Schweiz auf absehbare Zeit ein Experimentierlabor der Medienindustrie bleiben, das man auch in den Nachbarländern aufmerksamer als bisher beobachten wird. Als Nächstes, so empfiehlt Medienexperte Zimmermann, lasse sich wohl mit einer Gratis-Sonntagszeitung viel Geld verdienen. Auch deren gibt es in der Schweiz bereits seit langem zwei: „Il Mattino“ und „Il Caffé“ erscheinen auf der Alpensüdseite in italienischer Sprache. Die beiden Früchte des Tessiner Zitronenmarkts werden bislang noch nicht einmal in der deutschen Schweiz so richtig als Erfolgsmodelle wahrgenommen.

Colin Porlezza ist Kommunikationswissenschaftler an der Universität Lugano. Stephan Russ-Mohl leitet dort das European Journalism Observatory (www.ejo.ch).

Colin Porlezza, Stephan Russ-Mohl

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false