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Es gibt Städte in Amerika, wo kein Journalist mehr vor Ort ist. Dieses Vakuum wollen Dienste wie Journatic füllen. Heraus kommt aus Sicht der Leser: „ein Haufen Müll“. Foto: rtr

© REUTERS

Sparmaßnahme: US-Zeitungen lassen ihre Lokalnachrichten im Ausland produzieren

Die Firma "Journatic" stellt lokale Nachrichten für amerikanische Zeitungen bereit. Geschrieben werden die Artikel aus Kostengründen aber in Übersee. Lässt sich Lokaljournalismus auslagern?

An der Arbeit von Giselle Bautista hat sich in den USA eine Riesen-Debatte entzündet. Dabei war der Artikel, den sie geschrieben hat, eigentlich keine große Sache. Ein Pärchen wollte ein Haus verkaufen, in Flossmoor, einer Stadt knapp 50 Kilometer südlich von Chicago. Bautista war noch nie in der Stadt, wahrscheinlich nicht einmal in den USA. Den Text hat sie von Zu Hause aus geschrieben, von den Philippinen. Die Informationen hat sie aus dem Internet: ein Foto des Mannes, Universitätsabschluss, Job. Als Autorin steht in der „Chicago Tribune“ nicht Bautista, sondern Jenny Cox, ein Alias. In den USA wird seitdem heftig diskutiert: lässt sich Lokaljournalismus outsourcen?

Die Finanzkrise 2008 hat vor allem die Zeitungsbranche in den USA getroffen. Innerhalb eines Jahres wurden nach Angaben der amerikanischen Journalistenvereinigung Unity mehr als 35 000 Stellen abgebaut. Es gibt Städte in den USA, in denen kein Journalist mehr vor Ort ist. In dieses Vakuum ist Journatic gestoßen. Die Firma, 2006 in Chicago gegründet, stellt „hyper-lokale Inhalte“ für amerikanische Zeitungen bereit. Journatic verspricht, jene Kleinstädte abzudecken, die sich die Zeitungen nicht mehr leisten können; Städte wie Flossmoor. Giselle Bautista ist eine von 100 freien Mitarbeitern. Ihre Kollegen sitzen auf den Philippinen, in Afrika, Brasilien und Osteuropa. Outsourcing nennt sich das im Englischen, auslagern. Firmen tun es, um Kosten zu senken und billiger zu produzieren. Für ihren Artikel im Immobilienteil der „Tribune“ bekommt Bautista umgerechnet 33 Cent.

Journatic will die größte Maschinerie für lokale Nachrichten werden. Dafür sammelt die Firma alles, was sie über eine Region im Internet herausfinden kann: die Ergebnisse des lokalen Bowling-Centers, Immobilienverkäufe, Todesnachrichten. Wer hat eine Hochzeits-Lizenz in Pearland, Texas? Journatic weiß es. Auch die Namen aller Kinder, die die Trinity Prepetory School in Winter Parks, Florida, besuchen. Journatics Quellen sind städtische Websites, Netzwerke wie Linkdin, Pressemitteilungen. Die Autoren produzieren ihre Texte nach dem „Copy-and-Paste-Verfahren“. Die grundsätzliche Frage lautet: Was muss ein Journalist miterlebt haben? Muss er vor Ort gewesen sein, damit ihm der Leser glauben kann?

Ryan Smith, ehemaliger Redakteur bei Journatic, hat die Praktiken seines Arbeitgebers öffentlich gemacht. Die auf den Philippinen und sonstwo produzierten Inhalte landeten vor der Veröffentlichung auf seinem Schreibtisch. Er wunderte sich, dass einige Texte erhebliche Rechtschreibschwächen aufwiesen. Sein Vorgesetzter entgegnete ihm, dass er Verständnis haben müsse, schließlich seien die Autoren keine Muttersprachler. Smith aber wunderte sich umso mehr: Warum schreiben sie dann für uns?

Das war der Tag, an dem Ryan Smith zum ersten Mal von den philippinischen Zuarbeitern hörte. Es war der Tag, an dem er sich entschied, dass er so nicht weitermachen kann. Er wusste, dass er gefeuert wird, wenn er damit an die Öffentlichkeit geht. Er hat es dennoch getan. „Es ist eine Art zerfleddertes Produkt, das im Ausland geschrieben wird“ sagt er, „und dann halbherzig redigiert ins System einfließt.“

Das Ziel: dort hinzuschauen, wo sonst keine Zeitung, kein Lokalreporter mehr ist

Für Smith aber war Journalismus immer eine lokale Institution, geschrieben von Leuten aus der Region. Von Menschen, die sich dafür interessierten, was in ihrer jeweiligen Stadt, ihrem Dorf, passierte. Es hätte ihn freuen können, dass die „Chicago Tribune“ vor rund fünf Jahren entschied, sich verstärkt auf den lokalen Markt zu konzentrieren. Nicht aus purem Idealismus, sondern des Geldes wegen: Die Zeitungsmacher dachten, dass sie das Geld aus dem lokalen Anzeigenmarkt unabhängiger macht von den großen nationalen Anzeigen. Also gründete die „Chicago Tribune“ „TribLocal“ mit 90 Websites und 22 Lokalausgaben ihrer Zeitung. 18 Reporter wurden neu eingestellt.

Doch die Klick- und Verkaufszahlen waren zu niedrig, noch mehr Reporter einzustellen, zu teuer. Die „Chicago Tribune“ entließ die Hälfte des Personals, schickte die andere in die größeren Redaktionen und griff auf die Dienste von Journatic zurück. Damit steigerten sie ihre Inhalte um das Dreifache. Die „Chicago Tribune“ konnte Vororte abdecken, die sie vorher gar nicht bediente, etwa Flossmoor.

Genau das ist das erklärte Ziel von Journatic: dort hinzuschauen, wo sonst keine Zeitung, kein Lokalreporter mehr ist. „All die städtischen Etats, die Stadtratsitzungen, die niemand mehr sehen will, schauen wir uns an“, sagt Brian Timpone, Gründer und Chef von Journatic. „Ich bin der Meinung, dass es besser ist, irgendjemand schaut sich diese Dinge an, als wenn niemand es tun würde.“

Das Motto „Quantität vor Qualität“ sieht nicht jeder so positiv wie Timpone. Ein Leser beschwerte sich, dass er sich eigentlich immer auf die neue Lokalbeilage „TribLocal“ gefreut habe. Seit Journatic übernommen hat, sei diese allerdings „nur noch ein Haufen Müll“. Bedeutende Ereignisse in der Stadt würden gar nicht oder nur unzureichend thematisiert. Bei Servicehotlines ins Ausland verbunden zu werden, ist in den USA Normalität geworden. Doch ihre Lokalzeitung wollen die Menschen anscheinend von Leuten produziert wissen, die zumindest eine Ahnung der Region haben. Menschen aus dem gleichen Kulturkreis, die ihre Sprache sprechen und wissen, wofür sich die Leute interessieren.

Ryan Smith sieht das ähnlich. Zuletzt sollte er einen Artikel über den Haushalt von Flossmoor schreiben. Er schaute sich die Zahlen im Internet an und telefonierte mit dem Finanzdirektor. Dieser versicherte ihm, dass es der Kleinstadt finanziell gut ginge. Sicherlich gab es eine öffentliche Diskussion darüber, was mit den Geldern passieren sollte. Smith war nicht dabei – bei den zwölf Dollar, die er für den Artikel bekommen hat, hätte sich eine größere Recherche nicht gelohnt. Was die Bürger über die Verteilung des Budgets denken? Diese Information liefert Journatic nicht.

Die „Chicago Tribune“ und weitere Zeitungen haben die Arbeit mit Journatic beendet, nachdem Ryan Smith an die Öffentlichkeit gegangen ist. In Internetforen ist danach ein Shitstorm ausgebrochen. Brian Timpone glaubt dennoch an den Erfolg seines Modells – und das hat schon Nachahmer gefunden. Der amerikanische Journalist James Macpherson hat Journtent gegründet. Auch seine Firma bietet hyperlokale Nachrichten, die irgendwo auf der Welt produziert werden. Für Macpherson ist es der „wahrgewordene Traum eines jeden Herausgebers“. Ob das Modell auch der Traum eines jeden Lesers ist, darf bezweifelt werden. Sie werden letztlich mitentscheiden, wie die Zukunft aussehen wird; ob sie Qualität kaufen oder Quantität.

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