zum Hauptinhalt
Scharfe Zunge. Stefan Niggemeier gründete 2004 Bildblog.de.

© dapd

Stefan Niggemeier: Blogg dir deine Meinung!

Stefan Niggemeier gilt als „Bild“-Experte. Die Geschehnisse um Bundespräsident Christian Wulff diese Woche haben auch den langjährigen Kritiker der Boulevardzeitung überrascht.

Selbst der Journalist Stefan Niggemeier, einer der Frontkämpfer im Kampf gegen das Gestrüpp der Ungereimtheiten und Skandale in Deutschlands Medienlandschaft, hat am Anfang den Zündstoff übersehen, der am 31. Dezember in der Mitte eines langen Artikels über die Kreditaffäre von Bundespräsident Christian Wulff in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) steckte. Zum ersten Mal wurde dort publik, dass Wulff am 12. Dezember auf die Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann gesprochen und mit einem „endgültigen Bruch“ mit dem Springer-Verlag und „Kriegführen“ gedroht hatte.

Am Montag dieser Woche nun brachten einige überregionale Zeitungen diese Geschichte. Plötzlich war er da, der große Knall, der aus der Affäre um Christian Wulffs Hausfinanzierung einen handfesten Skandal machte, der die Republik aufwühlt: Der Bundespräsident bedroht die Pressefreiheit! Wie Wulffs verbale Hinterlassenschaft auf Diekmanns Mailbox in die Öffentlichkeit gelangt war, fragte man sich auch beim „Spiegel“ und rief bei seinem neuen Mitarbeiter Stefan Niggemeier in Berlin an. Der arbeitete zehn Jahre lang für die Medienseite der „FAS“, ist seit Oktober Autor des „Spiegel“ und gilt als „Bild“-Spezialist. Schließlich hat Niggemeier 2004 mit seinem Kollegen Christoph Schultheis „Bildblog“ gegründet, eines der erfolgreichsten deutschsprachigen, vielfach ausgezeichneten Blogs mit monatlich über einer Million Lesern, das sich seit Jahren vor allem mit den Verfehlungen des Boulevardblatts beschäftigt.

Vom Erfolg dieses Weblogs waren die zwei Journalisten am meisten überrascht. „,Bildblog‘ hat gezeigt, wie populäre Medienkritik funktionieren kann“, sagt Niggemeier. „Ich kann mir vorstellen, dass wir an ein paar Stellen auch eine Winzigkeit bei ,Bild‘ verändert haben. Vielleicht gibt es etwas weniger besonders dreiste Manipulationen und Persönlichkeitsrechtsverletzungen, und vielleicht hat auch die Einführung von Korrekturspalte und Leserbeirat etwas mit ,Bildblog‘ zu tun, dergestalt, dass ,Bild‘ etwas mehr zumindest den Eindruck einer seriösen, selbstkritischen Zeitung erwecken will.“

Zur Wulff-Affäre gibt es in diesen Tagen viele Fragen – natürlich auch an „Bild“-Kenner Niggemeier. Mit einer Antwort hat er überrascht. Niggemeier wundert sich auf seiner Website über die Klagen der Privatsender, dass sie, neben ARD und ZDF, nicht zum TV-Interview mit Christian Wulff eingeladen wurden. Wulff sei weder den „Sparkanälen“ Sat 1 und Pro 7 noch den „Rumpelsendern“ n-tv und N24 ein Interview schuldig. Und RTL zeige sicher nicht nur deshalb „so viel Müll und Quatsch“, weil der Bundespräsident nicht mit dem Sender reden will. Eine andere Frage dieser Woche lautet, warum „Bild“ die Wulff-Geschichte nicht gleich selbst gebracht hat. „Das ist für ,Bild‘ sehr komfortabel“, meint Niggemeier, „damit umging die Redaktion die Frage, ob man den Anruf veröffentlichen darf. Und nun kann sie schön am Seitenrand stehen und beobachten, wie die Dinge ihren Lauf nehmen.“ Den jahrelangen Pakt zwischen „Bild“ und Wulff findet Niggemeier von beiden Seiten unzulässig, „von ,Bild‘-Seite ist das aber das deutlich kleinere Übel, als wenn der Bundespräsident so agiert“.

Niggemeier verteidigt die „Bild“-Zeitung - ein Novum

Dass Niggemeier die „Bild“-Zeitung verteidigt, kommt selten vor. Kein anderes Medium hat Niggemeier im Laufe seiner journalistischen Karriere derart in die Mangel genommen. Gerade das verbindet aber auch, sein jetziger Arbeitgeber hat Niggemeier Ende 2009 in einem satirisch angehauchten Beitrag über „Medienstars und -phänomene“ bescheinigt, „seinem Antipoden Diekmann ein wenig ähnlicher“ geworden zu sein und was er denn wäre „ohne den Gegner ,Bild‘“.

Niggemeier selbst hört das nicht so gern, aber gewisse Parallelen kann man nicht verhehlen. Auch Stefan Niggemeier hat vor nicht allzu langer Zeit eine bekannte Persönlichkeit zu Fall gebracht, ohne selbst aktiv den Anstoß dafür gegeben zu haben: den Verlegersohn Konstantin Neven DuMont, Spross einer Verlegerdynastie und bis vor Monaten einer der wichtigsten Verleger Deutschlands. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen (Niggemeier nennt es „eine systematische Störung“) soll Neven DuMont monatelang Niggemeiers Blog mit unzähligen, teils wirren Kommentaren gefüllt haben, bei denen zuweilen auch die seinem Vater gehörende Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg (unter anderem: „Kölner Stadtanzeiger“, „Berliner Zeitung“) nicht so gut wegkam. Niggemeier machte die Causa öffentlich, die nahm in den Medien rasch Fahrt auf und führte schließlich zum Rückzug des Sohnes aus dem Unternehmen. Damit wurde Niggemeiers Internet-Blog weit über die Grenzen der Medienbranche hinaus bekannt.

Im Oktober 2011 gab der „Spiegel“ bekannt, dass der 42-Jährige ab sofort exklusiv als Autor verpflichtet wurde. „Das war nicht das erste Angebot an Niggemeier, aber das erste, das er angenommen hat“, sagt „Spiegel“-Chefredakteur Georg Mascolo. Für die Leser der „FAS“-Medienseite heißt das, dass sie seitdem auf die scharfzüngigen Texte des Medienexperten verzichten müssen. Für einige Leser seines Blogs bedeutet das: reiner Verrat. Er habe ein paar wütende Kommentare bekommen, sagt Niggemeier belustigt, während er entspannt in seinem Büro in Berlin-Mitte sitzt, das er sich mit seinem Kollegen Peer Schader und Husky-Schnauzer-Mischling Bambam teilt. „Komischerweise haben einige meiner Blogbesucher offenbar gedacht, ich wäre ein reiner Blogger. Da gab es Kommentare wie: Du hast dich kaufen lassen! Wie willst du denn jetzt noch über Medien bloggen! Als hätte ich nicht meine Seele, wenn überhaupt, schon vor zehn Jahren an die ,FAZ‘ verkauft.“

Obwohl er nun fast jede Woche neben seiner Kolumne „Niggemeiers Medienlexikon“ noch mindestens einen großen Text beim „Spiegel“ publiziert, reibt sich der zweimalige „Journalist des Jahres“ (der sich selbst kokett als „eher faul“ bezeichnet) weiterhin ausführlich auf seinem Blog, auf Bildblog.de und auf fernsehlexikon.de am Tun und Lassen des gesamten Medienpersonals. Damit macht er sich nicht nur Freunde, und die Liste seiner Feinde ist mindestens so lang wie die seiner Fans. Dabei, sagt er, sei es schon vorgekommen, dass er aus Rücksicht auf Personen Texte nicht geschrieben habe, es gäbe sogar Veröffentlichungen, die er hinterher bereut habe. Auch komme es vor, dass ihm manche seiner zahlreichen Opfer im Nachhinein leidtun und er sich fragt, ob er es sich nicht mit allen verscherzt hat. Oft erntet er aber auch selbst von Leuten, die er in seinen Texten angegriffen hat, Zustimmung.

„Das ermutigt mich wieder. Dann kann das, was ich schreibe, nicht ganz falsch sein.“ Niggemeier habe „eindrucksvoll neue Wege aufgezeigt, wie man mit den Freiheiten von Blogs experimentieren und dabei Journalismus weiterentwickeln kann“, sagt Blogger-Kollege Markus Beckedahl. Am 5. Mai wird Stefan Niggemeier im Bereich Presse/Neue Medien mit dem Medienpreis für Sprachkultur 2012 ausgezeichnet, vergeben von der Gesellschaft für deutsche Sprache. Bis dahin dürfte, mit oder ohne Christian Wulff, noch die eine der andere Geschichte den „Bildblog“ hinuntergehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false