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"Tatort" von Dominik Graf: Soloalbum

Nach 18 Jahren hat Dominik Graf wieder einen Münchner „Tatort“ gedreht. "Aus der Tiefe der Zeit" steht unter Avantgarde-Verdacht, ansehen muss man ihn trotzdem.

Im Eiltempo ziehende Wolken, die Skyline einer Großstadt, Berlin, Leipzig, München, Lichter unten, der wuselnde Verkehr, Vergnügungscenter, Bordelle, Spielcenter und Oktoberfest, Kräne, Baustellen, das alles schnell und flüssig hintereinander geschnitten – es braucht nicht viel, um einen Dominik-Graf-Krimi auf Anhieb zu erkennen. Das gilt auch dann, wenn sich Deutschlands renommiertester Genre-Regisseur der Erfolgsreihe „Tatort“ und des Themas Gentrifizierung annimmt. „Aus der Tiefe der Zeit“ ist erstaunlicherweise erst der zweite Beitrag von Dominik Graf für den „Tatort“ des Bayerischen Rundfunks. Mit „Frau Bu lacht“, im Milieu von Heiratshandel mit thailändischen Frauen und Kindesmissbrauch, hat der Regisseur 1995 eine der besten Folgen des ARD-Krimis abgeliefert. Da ist die Erwartungshaltung an einen außergewöhnlichen Fernsehabend am Sonntag besonders groß, schon gar, wenn Meret Becker und Misel Maticevic mitspielen.

Der erste Tote taucht nach circa sieben Minuten auf. Das ist das Einzige, was an einen herkömmlichen „Tatort“ erinnert. Ein Krimi unter Avantgarde-Verdacht. Es werden die typischen Themen aus dem filmischen Kosmos des Dominik Graf variiert: Korruption, die große Familienclangeschichte, bajuwarischer Politklüngel, die fast mystische Verbindung zwischen Menschen und Schauplätzen, orientiert am amerikanischen Genrekino.

Von wegen Popcornkino. Es braucht eine Inhaltsangabe. In München steigen die Mieten. Nicht nur im traditionellen Zuwandererviertel Westend stöhnen die Menschen unter den Baumaßnahmen der Schönheitsrenovierungen. Kommissar Franz Leitmayr sucht dort vorübergehend Zuflucht, in seiner Wohnung gab’s einen Wasserschaden. Ein Bagger buddelt hier eine Leiche aus, den bislang als vermisst geltenden Adoptivsohn der einstigen Zirkusprinzessin Magda Holzer. Die wohnt, hochbetagt, in ihrer Villa am Isarufer in Pullach und wird von der Haushälterin Rosl und dem treuen Kroaten Ante bedient.

Magda Holzers wenig geliebter leiblicher Sohn Peter gerät schnell in Verdacht wegen des Todes seines Adoptivbruders. Beide hatten ein Verhältnis mit der schönen Liz, die auch in der Villa wohnt. Liz ist Eventmanagerin mit besten Kontakten zur Münchner Stadtverwaltung. Leitmayrs’ Kollege Batic vermutet einen Raubmord, landet bald in der kriminellen Szene des Westends und deckt die gräusliche Geschichte der Familie Holzer auf.

Ein auffällig opulenter Krimi. Kaum eine Szene, eine Einstellung, die sich in einem anderen „Tatort“ dieser Republik wiederfinden könnte. Claudia Simionescu, die zuständige Redakteurin des Bayrischen Rundfunk, versichert, dass alle Etats eingehalten wurden: „Dominik Graf versteht sich darauf, das Optimum zu erarbeiten, und das hat, wie man sieht, nicht immer mit Geld zu tun, sondern mit sehr guter, auch produzentischer Vorbereitung und maximalem, konzentriertem Einsatz aller Beteiligten.“

Wohl wahr. Die Routiniers Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec, die hier in ihrem 65. Fall unterwegs sind, mussten sich zuletzt mit dem gewöhnungsbedürftigen Assistenten Fabian Hinrichs herumschlagen. Man würde sie gerne mal fragen, ob sie beim Drehen immer gewusst haben, an welcher Stelle der Geschichte sie sich befinden.

Das kann auch daran liegen, dass Graf nicht mit Autor Rolf Basedow zusammenarbeitete, der ihm beim ausgezeichneten Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ zur Seite stand. „Aus der Tiefe der Zeit“ hat sich Bernd Schwamm ausgedacht. Der sagt: „Wir bewegen uns auf brüchigen Fundamenten und schwankendem Boden. Ein Wirbel tut sich auf, ein Mahlstrom, in dessen Sog auch die Ermittler geraten.“

Und der Regisseur. Das Ganze wirkt so, als ob Dominik Graf die Geschichte nicht ganz ernst nehmen kann und ihr deshalb mit einer flirrend-überdrehten Inszenierung beikommt.  Samt seinen typischen Kennzeichen, den Anspielungen auf die Stadt als solche, ihre Geschichte, ihre Archäologie, die Verwendung des Polizeifunks, der als Geräuschkulisse für zusätzliche Spannung und Authentizität sorgen soll, der ständigen Polyphonie, der Inkongruenz von Bildern und Tönen, den verwirrenden Anschlüssen. Ein Soloalbum im Reigen der 08/15-Krimis. Graf schert sich wenig um bloße Plotbebilderung, dreht für zehn Millionen Zuschauer einen Primetime-Krimi frei nach Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“. Das ist eine gute Kurzgeschichte. Eine gute Geschichte aber sollte aus sich selbst heraus eine gewisse Form, eine gewisse Inszenierung erzwingen.

Keine Enttäuschung. Ansehen muss man sich Dominik Grafs Werk trotzdem.

Eine Enttäuschung? Nein. Anschauen muss man sich Dominik Grafs neuestes Werk trotzdem, alleine schon wegen des Ensembles. Martin Feifel als verzweifelter, ungeliebter Sohn, Misel Maticevic als treuer kroatischer Hausdiener, Ernie Mangold als peitschenschwingende greise Patriarchin, die schöne Victoria Sordo als Leitmayrs Versuchung, Meret Becker als Zirkusartistin, Managerin, Dirndl-Mädl und Femme fatale zugleich. So eine Besetzung gibt’s nur mit diesem Regisseur. Und Dominik Graf darf auch wieder am nächsten „Polizeiruf“ mit Matthias Brandt ran. Der BR-Krimi pflegt seine Autorenwerkstatt wie sonst der Hessische Rundfunk mit seinem schrulligen Ermittler Ulrich Tukur. Mit Filmemachern, denen Freiheiten eingeräumt werden, die früher selbstverständlich waren. Das birgt die Gefahr des Prätentiösen, von Krimis, die in ihrer Komplexität die Intelligenz ihres Regisseurs demonstrieren sollen. Das ist aber immer noch besser als der Krimi-Mainstream, der Sonntag für Sonntag um diese Uhrzeit läuft.

Dass ein nicht klassisch narrativer Film auch unterhaltend sein kann, zeigte zuletzt der Krimi „Das unsichtbare Mädchen“, angelehnt an den realen Fall Peggy. Regie: Dominik Graf.

„Tatort – Aus der Tiefe der Zeit“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15

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