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© Hendrik Lehmann

Transmediale 2015: Ich ist eine Aktiengesellschaft

Künstlerin Jennifer Lyn Morone macht aus ihren Daten ein Geschäft. Die Transmediale 2015 diskutiert unterdessen den Ausverkauf der Nutzer.

Von Hendrik Lehmann

„Wenn Sie für einen Service im Internet nicht zahlen, sind Sie selbst das Produkt, das verkauft wird.“ So lautet ein Slogan, mit dem seit Jahren Datenschützer und Aktivisten vor der ausufernden Datensammelwut von Onlinediensten warnen. Das Geschäft mit Daten über Nutzerverhalten boomt. Allein Google hat 2013 12,9 Milliarden Dollar (rund 11,4 Milliarden Euro) Nettogewinn erzielt. 96 Prozent seines Umsatzes generiert der Datenriese mit Werbung. Und je mehr er über seine Nutzer weiß, desto genauer können die Werbeanzeigen auf den Einzelnen maßgeschneidert werden.

Jennifer Lyn Morone vermarktet ihre Daten selbst - als Aktiengesellschaft

Die Künstlerin Jennifer Lyn Morone, zurzeit zu Gast bei der Transmediale, dem Berliner Festival zu digitaler Kunst und Wissenschaft, versucht, das Prinzip umzudrehen. „Wenn man sowieso das Produkt ist, kann man wenigstens sein eigenes sein“, sagt die 35-jährige New Yorkerin. Sie hat mit der Idee ernst gemacht. Über ihrem Bett hängt eine Webcam, über ihrem PC auch. Ein Fitnessarmband misst automatisch ihre Schritte und ihren Schlafrhythmus, ein anderes Gerät ihren Puls. Daneben führt sie Buch über Essensgewohnheiten und darüber, welche Kleidung sie wann trägt. Auch ihre Facebooknachrichten, E-Mails, Banktransaktionen und gehörte Musik sammelt sie. All diese Daten soll man bald kaufen können, in ihrem eigenen Webshop. Morone hat kurzerhand ihre Person in einen Konzern umgewandelt, Jennifer Lyn Morone Inc. „Wir selbst haben wesentlich weniger Rechte über unsere Daten als Großkonzerne, die damit Milliarden verdienen“, erklärt die makellose Fusion von Frau und Firma. Wenn wir selbst zum Konzern würden, hätten wir wieder eine bessere Verhandlungsposition auf dem Datenmarkt. Da Aktiengesellschaften am allerbesten aufgestellt sind, auf dem globalen Markt zu bestehen, plant Morone auch, Anteile an ihrer Ich-AG zu verkaufen. Die Anteilseigner haben dann die Möglichkeit mitzubestimmen, wie sie ihre Daten noch effizienter verkaufen kann. Sie könnten auch Einfluss auf den Verlauf ihres weiteren Lebens nehmen. Erste Kaufwillige haben sich bereits gemeldet.

Die Künstlerin will das Projekt noch mindestens fünf bis zehn Jahre weiterführen. Motiviert ist sie von aktivistischen Gedanken. Morone will durch ihr Experiment einerseits zeigen, wie unausgeglichen die Rechtslage im Bezug auf Nutzerdaten ist. Sie will aber auch zeigen, dass der digitalisierte Markt, der Daten zum Öl der New Economy erklärt hat, inzwischen keinen Halt mehr davor macht, auch die kleinsten Details unserer Persönlichkeit zu erfassen, auszuwerten und schlussendlich zu verkaufen.

Bei der „Transmediale“ im Haus der Kulturen der Welt sucht sie weitere Käufer für die Aktienanteile an ihrem Leben. In ihrer Installation aus mehreren Bildschirmen ist ein endloser Fluss aus Fakten zu sehen. Eine völlig in Zahlen übersetzte Person.

Der Nutzer soll vollständig erfasst werden - Stichwort: "Capture all"

Das Festival trägt 2015 den Titel „Capture All“ – alles erfassen. Das ist eine Referenz zu den NSA-Skandalen, erläutert Festivalleiter Kristoffer Gansing. Denn in der Ära nach Snowden wird zunehmend klar, dass es bei neuen digitalen Überwachungstechniken nicht mehr nur darum geht, wenige Verdächtige zu beobachten oder einzelne Täter zu bestrafen. Vielmehr, sagt Gansing, gehe es darum, alle digitalen Nutzerdaten vollständig zu erfassen und mithilfe von Algorithmen zu analysieren, an welchen Stellen die ersten verdächtigen Auffälligkeiten zu beobachten sind. Nicht zuletzt legitimieren sich Geheimdienste heutzutage damit, terroristische Anschläge verhindert zu haben, nicht damit, Terroristen erst nach einem bereits erfolgten Attentat zu bestrafen. Dafür treffen immer intelligentere Computersysteme Voraussagen: Wer wird wie wahrscheinlich wann und wo zur Gefahr? Das geht nur, wenn erst mal alle überwacht werden.

Während die Gefahr staatlicher Überwachung seit den Skandalen um Snowden und Manning in der Bevölkerung einigermaßen angekommen ist, so Gansing, sei den wenigsten bewusst, dass Regierungen nicht die einflussreichsten Überwacher unseres Alltags sind. „Wir selbst sind zu unseren größten Überwachern geworden“, sagt Gansing, „zumeist aus völlig eigennützigen Motiven“. Auf der Suche nach mehr sozialer Geltung, mehr beruflichem Erfolg, noch besseren Shoppingangeboten produzieren wir die sensibelsten Daten über uns ganz freiwillig. Darüber jedoch, was aus ihnen alles abgeleitet werden kann und wie das genau funktioniert, herrscht ein enormes Unwissen in der Bevölkerung, kritisiert er. Sein Festival will dazu beitragen, dass sich das ändert. Und es will helfen, Gegenmaßnahmen zu entwickeln.

Daten sollten sozial sinnvoll genutzt werden, sagen zwei italienische Aktivisten

Salvatore Iaconesi und Oriana Persico aus Rom tun unter dem Namen „Art is Open Source“ genau das. Aufklären und Gegenmittel entwickeln. „Unser dualistisches Denken funktioniert in dieser Zeit nicht mehr“, behauptet Iaconesi, der Robotik und Philosophie studiert hat. „Man kann sich nicht mehr grundsätzlich gegen die neuen Möglichkeiten der Datenanalyse wehren.“ Stattdessen fordern die beiden einen konstruktiven Umgang damit. Für die Transmediale haben sie ein Datenorakel gebaut. Es besteht aus einem Drucker, der ununterbrochen auf Endlospapier Zukunftsvorhersagen ausdruckt. Das Computersystem dahinter sammelt öffentliche Nachrichten und Ortsangaben, die momentan in Berlin auf Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter gepostet werden. Verschiedene Algorithmen suchen nach Mustern in den Daten und leiten daraus die Voraussagen ab. Darüber, was bestimmte Leute tun werden, wie die Stimmung an manchen Orten ist oder wer sich verlieben wird.

Ihr Datengott ist für die beiden allerdings nur Anschauungsmaterial, ein Witz, um zu demonstrieren, was die Datenindustrie sowieso schon mit unseren Daten macht. Viel wichtiger ist ihnen, neue Möglichkeiten zu finden, sozial sinnvolle Datenanalyse zu betreiben. Ihrer Meinung nach sollten alle von den neuen Analysemöglichkeiten profitieren können, nicht nur Konzerne. In Rom haben sie in einem „Echtzeitmuseum der Stadt“ über längere Zeit solche Daten ausgestellt, wie sie auch ihr Orakel sammelt. Mit der Zeit wurde sichtbar, dass nicht nur viele Leute in der Stadt ein Problem mit herumliegendem Müll haben, sondern auch, wo es am schlimmsten ist und welche Gruppen sich am ehesten zusammenfinden könnten, um etwas dagegen zu tun. Engagement mit Daten anstatt Überwachung also.

Aber ändert das etwas daran, dass Konzerne wie Facebook selbst unsere privatesten Nachrichten zu Werbezwecken auswerten können? Auch dafür haben die beiden Bastler etwas auf der Transmediale vorgestellt: Ein Programm, das Facebook-Nachrichten oder -Posts verschlüsselt. Mithilfe der gleichen Verschlüsselungstechnik, die auch die digitale Währung Bitcoin benutzt, können dann nur noch diejenigen die Mitteilung lesen, für die der Absender sie explizit bestimmt hat. Andere Nutzer und sogar Facebook selbst sehen nur noch ein unverständliches Wirrwarr aus Zeichen. Bislang wird das Programm noch getestet. Bald soll es veröffentlicht werden. Dann auch für Twitter und Google Mail.

Mehr zum Thema: Im Video erklären Ianconesi und Persico ihr Datenorkel

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