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Tunisia-Live-Chef Youssef Gaigi (r.) bespricht journalistische Texte mit seinem Team. Im Büro hängt ein Protestplakat von Demonstranten.

© Sabine Sasse

Tunesien: Vom Traum der Pressefreiheit nach der Revolution

"Vieles, was wir übersetzten, entsprach nicht der Wahrheit“: Seit der Revolution herrscht in Tunesien Pressefreiheit. Eigentlich. Besuch eines unübersichtlichen Landes.

In der Rue Charles de Gaulles 17 befindet sich in einer ehemaligen Wohnung mit hellblau gestrichenen Fenstern und Türen das Büro von Tunisia Live. Die enge, laute Seitenstraße in Tunesiens Hauptstadt Tunis ist nur einen Steinwurf von der Avenue Habib Bourguiba entfernt. Auf dem Boulevard nahm vor über zwei Jahren der Arabische Frühling seinen Anfang. Seitdem demonstrieren hier immer wieder tausende Menschen für Freiheit und Demokratie. Tunisia Live ist das erste und bis heute einzige Nachrichtenportal, das Nachrichten aus Tunesien und der arabischen Welt auf Englisch verbreitet.

Die Redaktion besteht aus drei spärlich eingerichteten Räumen und einem großen abgedunkelten Fernsehstudio. An den Wänden hängen Fotos mit Bildern der Tunesischen Revolution, selbst gemalte Schilder mit Parolen und eine große Tafel, auf der wichtige Veranstaltungen und Ideen notiert sind: Freiheit der Justiz, Verfahren zum Entwurf einer Verfassung, Aufstand der Frauen in der arabischen Welt, Homosexualität im Islam, die Situation der Medien. In den Räumen sitzen junge Leute an kleinen Tischen und tippen Texte in ihre Laptops. Im kleinsten Raum, der nur aus einem Schreibtisch, einem kleinen Tisch für Besucher und vier Stühlen besteht, sitzt Youssef Gaigi. Gleich nach der Revolution, im April 2011, hat er das Portal gemeinsam mit dem tunesischen Journalisten Zied Mhirsi gegründet.

Der 34-Jährige hat in Boston studiert und für den arabischen Sender Al Schasira über die arabische Revolution berichtet. Dabei fiel ihm auf, dass fast nur arabischsprachige Medien gab, einige wenige auf Französisch, kein einziges auf Englisch. Damit gab es keine Quelle, aus der sich ausländische Reporter, die kein Arabisch oder Französisch sprechen, bedienen konnten. Das brachte ihn auf die Idee, auf Facebook eine Seite einzurichten, auf der er und ein kleines Team die aktuellen Nachrichten ins Englische übersetzten. „Dann merkten wir, dass vieles, was wir da übersetzten, nicht der Wahrheit entsprach“, erzählt Gaigi.

Facebook als Nachrichtenquelle

Also begannen sie, selbst Nachrichten und Filme zu produzieren und sie auf die Facebook-Seite zu stellen. „Da gab es eine große Informationslücke“, sagt er, „und die wollten wir schließen. Denn es ist enorm wichtig, mit der Welt in Verbindung zu bleiben und zu erzählen, was hier passiert.“ So wurde die Facebook-Seite von Tunisia Live eine der populärsten Nachrichtenquellen für ausländische Medien und Journalisten. „In Tunesien benutzen viele Facebook als Nachrichtenquelle, mehr als Zeitungen oder Fernsehen“, sagt Gaigi. Selbst offizielle Regierungserklärungen werden über Facebook und Twitter verbreitet, die auch die Redakteure von Tunisia Live für ihre Nachrichtenproduktion nutzen. Seit 2012 gibt es von Tunisia Live auch eine Website (www.tunisia-live.net).

Offiziell herrscht jetzt in Tunesien Pressefreiheit, sagt Gaigi. Trotzdem kann er immer noch jederzeit wegen eines Textes oder Fotos ins Gefängnis geworfen werden. Zwei Jahre nach der Revolution weiß niemand, was genau Pressefreiheit eigentlich bedeutet. „Es gibt kein Gesetz, das die Freiheit der Medien regelt.“ Es gab zwar einige Gesetzesvorschläge, bisher sei aber keiner realisiert worden. „Viele Medien hängen noch immer von staatlicher Unterstützung ab und müssen sich deshalb genau überlegen, was sie veröffentlichen“, so Gaigi.

Werbekunden zu gewinnen, sei sehr schwierig. Gaigi denkt ständig darüber nach, wie er Geld für das Büro und die 15 Mitarbeiter auftreiben kann. Zurzeit finanziert sich Tunisia Live über seine Nachrichten und Filme, die es an Medien im Ausland verkauft. Unter anderem gibt es Kooperationen mit dem „Spiegel“, der BBC, Al Dschasira, CNN, „New York Times“ und „El Pais“. Was passiert, wenn der Hype vorbei ist und das Ausland sich nicht mehr für Tunesien interessiert, weiß er nicht. „Ich glaube, im Moment hat niemand aus der Medienbranche eine Antwort darauf, wie sich das in Zukunft finanzieren soll.“

Jalel Lakhdar hat noch nie etwas von Tunisia Live gehört. Der Mittfünfziger ist seit zwei Jahren Direktor für Außenbeziehungen bei Télévision Tunisienne Nationale (TTN), dem ehemaligen tunesischen Staatsfernsehen, und hat offenbar genug mit sich und seinem Laden zu tun. Seit 1980 arbeitet er für TTN, er war Redakteur und zwischendurch Botschafter in Dakar. Zu Ben Alis Zeiten war TTN das Sprachrohr des Diktators, gesendet wurde nach Anweisung von oben. Nun würde Lakhdar seinen Sender gern in die neue Zeit führen, er weiß nicht, wie er das machen soll. Seit die Regierung nicht mehr ins Staatsfernsehen reinregiert, hat sich für die ehemaligen Verlautbarungsorgane ein quälendes Vakuum aufgetan. Niemand sagt ihnen mehr, was sie senden oder schreiben dürfen und was nicht. Lakhdar hofft, dass die neue Regierung sich bald des Problems annimmt, Gesetze für tunesische Medien schafft und die Struktur des Senders reformiert.

Auch er kämpft mit großen finanziellen Problemen. Das Budget des Senders beträgt 25 Millionen Euro, es finanziert sich über eine TV-Abgabe, die mit dem Strom eingezogen wird, über Werbung und über den Staat. Seit der Revolution wurde der Etat nicht erhöht, dafür aber das Personal, um fast das Doppelte auf 1400. Nicht weil sie gebraucht werden, sondern als soziale Absicherung für ein paar Altgediente. Tunesien braucht offensichtlich Hilfe. Das haben nach Ben Alis Flucht zahlreiche Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen erkannt und Abordnungen nach Tunis geschickt. Olivia Gré und Belhassan Handous beobachten seit 2011 für Reporter ohne Grenzen, wie es mit der Pressefreiheit im Land vorangeht. Leider nicht gut. „Es gibt eine Vielzahl von Angriffen, Verletzungen, Drohungen und Erpressungen gegen Journalisten, 2013 waren es 50 täglich“, sagt Olivia. „Niemand wird verurteilt. Daran ist auch die Politik schuld, weil in politischen Reden gegen Journalisten gehetzt und zu Gewalt aufgerufen wird.“

Seit zwei Jahren arbeiten Michael Tecklenburg und sein Team vor Ort daran, die journalistische Qualität im Land zu verbessern. Der 57-Jährige ist Leiter für Afrika bei der Deutsche-Welle-Akademie, die Journalisten in Entwicklungs- und Krisenländern ausbildet. Seit über einem Jahr arbeitet die Akademie mit dem journalistischen Institut der Universität in Tunis (IPSI) zusammen, um moderne Unterrichtsformen zu entwickeln. Auch Blogger und soziale Netzwerker werden in die Ausbildung eingebunden. Das größte Problem, sagt Tecklenburg, sei die Ungeduld. Es gibt keine Regeln, keine Verfassung, keine Sicherheit. Gegen den neuen Regierungschef Ali Larajedh gibt es immer wieder heftige Proteste. Einer tunesischen Bloggerin, die sich auf ihrer Facebook-Seite mit entblößter Brust für Frauenrechte einsetzt, droht eine harte Bestrafung. Bis in Tunesien Presse- und Meinungsfreiheit herrschen, ist es noch ein langer Weg.

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