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© SWR-Pressestelle/Fotoredaktion

TV-Film: Mehr als ein Flugzeugabsturz

Das ARD-Drama „Flug in die Nacht“ erinnert an das Unglück von Überlingen

Das vermeintlich Unmögliche geschah am 1. Juli 2002. Im Luftraum über dem Bodensee kollidierten zwei Flugzeuge. Maschinenteile und 71 Menschen stürzten aus mehr als 10 000 Meter Höhe, zerschellten im Bereich der Kreisstadt Überlingen am Boden. Die zuständige Flugsicherung in Zürich hatte versagt. Einsparungen, Fehlentscheidungen, technische Defizite und ein alleingelassener Fluglotse wurden später als Ursache des Unglücks genannt. Zu den Opfern des Zusammenstoßes gehörte auch die Familie eines ossetischen Bauingenieurs, der im Film den fiktiven Namen Yuri Balkajew, gespielt von Jevgenij Sitochin, trägt. Dieser Mann ersticht im Februar 2004 den schweizerischen Fluglotsen, dem er die Verantwortung für den Unfall zuschreibt.

Regisseur und Autor Till Endemann konzentriert sich in seinem ersten abendfüllenden Fernsehfilm auf den menschlichen Zusammenstoß, der dem technischen Crash folgte. In überwiegend ruhigen Einstellungen setzte er ein Drama um Schuld und Verantwortung in Szene, das durch kontrastreiche Bilder und klugen Schnitt überzeugt. Im Mittelpunkt stehen die Ereignisse, die zum Tod des Flugcontrollers führten. Eine Bluttat, die ebenso wie der Flugzeugabsturz das Ergebnis mangelhafter Kommunikation und inhumaner Finanzlogik ist. Ken Duken, der bereits in „Willkommen zu Hause“ als Afghanistan-Heimkehrer in einem TV-Drama mit aktuellem Bezug überzeugte, stellt den Lotsen als verzweifelten Menschen dar. Er droht an seiner Schuld zu zerbrechen. Seinem Gefühl folgend will er sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigen, wird jedoch von seinem Arbeitgeber daran gehindert. Für die Firma geht es um Entschädigungen in Millionenhöhe, ein Schuldbekenntnis käme sie teuer zu stehen. Der psychisch angeschlagene Mann wird zum Spielball wirtschaftlicher Interessen.

Ähnlich ergeht es dem Witwer aus Ossetien, der vergeblich auf eine Entschuldigung vonseiten der Flugsicherung hofft. „Ich will kein Geld, aber jemand soll die Verantwortung übernehmen!“, schreit er verzweifelt in die Welt hinaus. Sein Begriff von Gerechtigkeit und das emotionale Chaos in seinem Inneren werden in der kühlen westeuropäischen Wirtschaftswelt nicht verstanden. Hier prallen auch die Kulturen zusammen.

Die deutsch-schweizerische Koproduktion kommt ohne dramaturgische Zuspitzungen aus. Der Spielfilm will keine Dokumentation sein, hält sich jedoch eng an die gut belegten Fakten. Der Unfall und seine Folgen sind von so starker emotionaler Wucht, dass allein die Charaktere der freien Interpretation bedurften.

Trotz des modernen Themas enthält der TV-Film viele Elemente einer klassischen Tragödie. Und obwohl er so aufwühlend ist, drängen sich viele sachliche Fragen auf. Zum Beispiel die nach dem Werdegang des russischen Mörders. Er wurde nach rund fünf Jahren in schweizerischer Haft in seiner Heimat wie ein Held empfangen. Heute ist er stellvertretender Bauminister Nordossetiens. Auch lässt der Film offen, welche Konsequenzen aus dem Desaster gezogen wurden. Ist die Flugsicherung nach wie vor ein Geschäft, bei dem es vorrangig um betriebswirtschaftliche Ergebnisse geht? Muss bei Katastrophen der Verlust von geliebten Menschen zwangsläufig und ausschließlich mit Geld ausgeglichen werden? Ist ehrliche Anteilnahme fehl am Platz, wenn es um Paragrafen geht? „Flug in die Nacht“ zeigt, dass das Unglück von Überlingen weit mehr als ein Flugzeugabsturz war.

„Flug in die Nacht – Das Unglück von Überlingen“, ARD, 20 Uhr 15

Jan-Rüdiger Vogler

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