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© NDR Presse und Information

TV-"Tatort": Eine Frau für alle Unfälle

Im „Tatort“ aus Hannover sucht Maria Furtwängler eine „Vergessene Erinnerung“.

Dass Dorfidyllen gerne täuschen, hat der moderne Krimi ins Bewusstsein gebracht. Schon Agatha Christies unsterbliche Miss Marple pflegte zu betonen, dass just dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, das Verbrechen gedeiht. Und als Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), „Tatort“-Kommissarin aus Hannover, nachts über Land fährt, geschieht es: Eine Gestalt im roten Anorak erscheint urplötzlich auf düsterer Chaussee. Eine weitere im Trench bewegt sich auf sie zu. Lindholm weicht aus, braust ins Unterholz, gegen einen Baum und in eine Senke. Man erblickt sie, den Kopf auf der Brust, bewusstlos hinterm Lenkrad. Am nächsten Tag erwacht sie im Krankenhaus, nahe beim Dörfchen Volsum.

Und wo ist das Verbrechen in diesem ARD-„Tatort“ ? Noch haben wir nur einen Unfall. Aber Lindholm, die sich rasch erholt, ahnt etwas. Sie muss fürchten, den Mann im Trenchcoat angefahren zu haben, aber niemand meldet sich. Und vom Zeugen in der roten Jacke fehlt auch jede Spur. Lindholm sucht die Volsumer auf. Sie mietet sich im Gasthof ein. Niemand antwortet unbefangen auf ihre Fragen – weder die Ortsvorsteherin (Margarita Broich) noch der Dorfpolizist (Max Hopp) und auch nicht die Tierärztin (Ute Willing). Stattdessen wundern die Volsumer sich, warum die Frau aus Hannover immer noch da ist und rumschnüffelt, warum sie nicht nach Hause fährt und sich ins Bett legt, wo sie hingehört. Wer Charlotte Lindholm kennt, weiß, dass sie nie dahin geht, wo andere finden, dass sie hingehört. Inzwischen ahnt sie nicht nur, sondern merkt und sieht: Hier ist was faul. Warum hat man ihren Wagen ohne Auftrag repariert? Und warum sind ihre Erinnerungen an die Unglücksnacht so lückenhaft?

Es sei gleich gesagt, dass der Plot reichlich verwickelt ist und an jene vom herrlich verrätselten „Malteser Falken“ gestiftete Krimitradition anschließt, bei der am Ende niemand mehr durchblickt, weder der Regisseur noch der Buchautor oder der Hauptdarsteller (bei Dashiell Hammetts „Falken“ war das Humphrey Bogart). Aber das ist nicht unbedingt ein Fehler, sofern Charaktere und Atmosphäre des Films für fehlende Übersichtlichkeit entschädigen. Ein solches Verdienst hat „Vergessene Erinnerung“ mit den Mitteln des Fernsehfilms durchaus für sich erworben.

Die Kamera von Hannes Hubach inszeniert die trügerische Dorfidylle mit großer Sorgfalt und Sinn für Naturschönheit, die Menschenbosheit kaschiert. Die einspurigen, von Bäumen gesäumten Chausseen sehen aus wie gewachsene Kirchenschiffe, führen jedoch auf moralische Abgründe zu. Auch die properen alten Backsteinhäuser haben ihre ablenkenden Rollen in diesem Verwirrspiel um Flurstücke, Erbstreitigkeiten, Erdgas und eine versteckte Hanfplantage – die ihrerseits wieder viel zu schön ist, um in einen kriminellen Kontext passen zu wollen. Und dann sind da die Gesichter der Dörfler: verschlossen, verbiestert, verdächtig. Regisseurin Christiane Balthasar versteht es, diese Gesichter in langen Einstellungen zum Sprechen zu bringen. Und sie gibt ihrer Protagonistin Furtwängler beste Möglichkeiten, ihren Liebreiz und ihre Verletzlichkeit (Unfall) mit ihrer Kaltschnäuzigkeit und professionellen Zielstrebigkeit kontrastieren zu lassen. Charlotte Lindholm hat jetzt keine Zeit mehr, ihr Blondhaar zu kämmen, und so konkurriert ihre fliegende Mähne mit den Gräsern und Kräutern und Ähren der Koppeln um das leuchtendste Gold.

In der darstellerisch ebenfalls überzeugenden Idil Üner als skrupelloser Agentin von Heuven erwächst der Kommissarin eine Gegenspielerin von Format. Als beide Frauen sich beim Showdown, die Waffen im Anschlag, gegenüberstehen, steigt die Spannung, trotz mancher Ungewissheit in Sachen Handlungsverlauf, noch einmal steil an. Selten hat Lindholm so verzweifelt um ihr Leben gefleht.

„Tatort: Vergessene Erinnerung“, ARD, 20 Uhr 15

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