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Medien: Versprechen und Versprecher

Die Flut der Wahlkampf-Talks überdeckt das Eigentliche – die Argumente

Wer hat schon mit wem, wer noch nicht in Berlin? Was man für eine sozio- oder gar erotografische Frage halten könnte, drängt sich im Moment vor allem für die Wahlkampfpräsenz der Politiker im Fernsehen auf. Geschätzte 50, gefühlte 5000 so genannte TV-Duelle, -Runden, -Interviews, -Talks, -Monologe, -Dokumentationen mit, zwischen und über Deutschlands politisches Führungspersonal stehen bis Mitte September noch an. Der Stoiber mit dem Lafontaine jetzt doch nur platonisch, die Merkel will mit dem Schröder nur einmal, der Westerwelle kommt oft und so weiter und so fort. Und dann zählen wir Schweißflecken, Stotterer, Lächler, Versprecher und Versprechen, spekulieren, ob er/sie was auch immer so gemeint hat, ob dieses Wasauchimmer Unbedachtheit war, Strategie, Missverständnis, verfälschte Medienwiedergabe.

Jeder Nebensatz kann zu einem schlagzeilenbeherrschenden Skandal werden, der dann beabsichtigt oder nicht für den oder die Sagende(n) eine Realität schafft, die wiederum ausgefüllt, weiterentwickelt, eingefangen werden muss. Vor allem: Der Wähler bleibt ratlos ob so viel rastlosen Redens und Spekulierens. Und er wird unberechenbar für Meinungsforscher, Medienexperten, vor allem für die Politiker selbst.

Ein Beispiel: Schönbohms Äußerungen lassen trotz eiligen Einlenkens seine Werte im Osten fallen, nach Stoibers wiederholtem Austeilen steigt die Wertschätzung für die CDU – im Osten. Mit jeder Runde könnte einem die Berliner Wahlkampfbühne immer durchgeknallter erscheinen oder die Wähler als umherirrendes Publikum, das schon längst nicht mehr aufgeklärt reagiert, sondern nur noch den stündlichen Stimmungen folgt. Was als Wohlklang von den Toppolitikern gemeint und über die Medien abgeschickt wird, kommt in der Summe als Kakophonie beim Zuschauer an. Vor lauter Diskussionen über Versprecher, Frisuren und Tagesformen und daraus abgeleiteten Führungsqualitäten, vermeintlichen Politikmotiven und Persönlichkeitsstrukturen blicken wir immer weniger durch, was uns die Akteure nun eigentlich inhaltlich zu sagen haben.

Inzwischen hat sich fast unwidersprochen ein Common Sense darüber entwickelt, dass das Auftreten eines Politikers das mit Abstand bedeutendste Kriterium für den Wahlerfolg geworden sei. Und tatsächlich, schon Plato hat demonstriert, wie wichtig eine bestechende Rhetorik, ein gewinnendes Äußeres für die Meinungswirkung sind. Mit der seit langem propagierten Amerikanisierung der Wahlkämpfe sind dann angeblich die Fernsehauftritte zum entscheidenden Faktor geworden. Und sicher können sie, abhängig von der Weiterverarbeitung in den anderen Medien, bei Unentschlossenen im niedrigen Prozentbereich letztlich über Regierung oder Opposition, kleine oder große Koalition mitentscheiden.

In Teilen hat die Mediendebatte über den Medieneinfluss aber Züge einer selbst erfüllenden Prophezeiung bekommen. Denn die Beispiele der siegreichen CDU-Politiker Carstensen und Rüttgers haben auch gezeigt, dass das Fehlen professioneller Glätte, die durch das Wirken ganzer Heerscharen von Beratern erzielt wurde, nicht mehr zwangsläufig zum politischen Misserfolg führt, sondern Glaubwürdigkeit und Authentizität am Ende noch höher bewertet werden. Doch was heißt Authentizität? Ist Fischer authentisch, wenn er seine Lebensgefährtin mit in die Kameras führt, beim Bundespresseball, im Watt, die Reporter dann aber, scheinbar verdrossen über so viel Interesse am Privatleben, in die Schranken verweist? Ist es Westerwelle, wenn er mit kalter Schärfe seine Sätze abfeuert? Kein Psychoanalytiker der Welt wird vermutlich noch die Trennung zwischen dem „wahren“ Ich und der politischen Rolle der Führungskandidaten hinbekommen. Denn dazu dürften sie, öffentlich wie privat, viel zu sehr eins, ja besessen sein von ihrer Aufgabe. Von daher können die Authentizitätskorrekturen bestenfalls kosmetischer Natur sein.

Aus einem Schröder lässt sich keine Merkel, aus einer Merkel kein Schröder drechseln. Nötig ist für Politik, Medien und Bürger eine Renaissance der Inhaltsdebatten. Politik ist viel komplexer, als man aus der Zuspitzung von Parteiprogrammen in einem Kandidaten, einer Kandidatin schließen könnte. Klar wollen wir eine repräsentative, charismatische Führung, klar sind auch die Medien die wichtigste Plattform für eine eingängige Verbreitung der politischen Pläne und Ideen. Aber es ist auch an den Medien, bei aller Leidenschaft für Personal- und Personendebatten den Akzent stärker auf Argumente, nicht Argumentverpackungen zu legen. Denn sonst könnte der Wahlkampf schon wieder durch eine Flut geprägt sein. Diesmal eine Flut aus unverbunden nebeneinander stehenden Einzeleindrücken, Themen und Kurzanfragen, die beim Bürger nicht mehr erreichen als Abstumpfung, Zynismus und Ratlosigkeit. Ob die wohl vereinbarten neunzig Sekunden pro Kandidat und Moderatorenfrage am Großduelltag hier wirklich helfen?

Jo Groebel

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